Illusionen der Technik

Ein Sammelband belauscht Zwiegespräche zwischen Ernst und Friedrich Georg Jünger

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leser der Tagebücher Ernst Jüngers wissen, dass der ältere dem dreieinhalb Jahre jüngeren Bruder Friedrich Georg, der bereits 1977 starb, sehr verbunden war, ihm einmal im Grabenkrieg des Ersten Weltkriegs das Leben rettete, oft intensive Arbeitsgespräche mit ihm geführt und sein Werk sehr geschätzt hat. Ein Sammelband mit Aufsätzen zu Ernst und Friedrich Georg Jünger verspricht daher weiteren Aufschluss über das Verhältnis beider, und ihr Verhältnis wiederum zum "Titan Technik" ist ein gut gewähltes Tertium comparationis, da beide Brüder ihre Zivilisationskritik auch anhand der Technik exemplifiziert haben.

Das Dilemma der Modernisierung, schon im 18. Jahrhundert erkannt und thematisiert, die Eingriffe der Maschinenwelt in die sozialen und individuellen Lebensbedingungen, die wachsende Furcht vor einer Verselbstständigung des Molochs Technik, sein Beitrag zur Standardisierung der Arbeitswelt und der Verwandlung des Menschen zum 'Typus', von Nietzsche bereits beschrieben, ist ein Topos der konservativen Kulturkritik. Aber er kann ebenso von liberalen, aufgeklärten oder sozialdemokratischen Köpfen zugeordnet werden.

Martin Heidegger, Walter Rathenau, Ferdinand Tönnies, Max Weber bilden den theoretischen Horizont der Technikphilosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und da die Technik nicht verantwortlich gemacht werden kann für die sozialen Umwälzungen, die sie mit sich bringt oder ermöglicht, bedeutet Technikkritik automatisch Gesellschaftskritik, insbesondere Kritik des Kapitalismus und Materialismus und weitet sich schnell zu einer allgemeinen Zeitkritik aus. Eines der ersten "ökologischen Manifeste der Moderne" stammt von Ludwig Klages. Klages betrachtet den Fortschritt als 'wertfreien' Raubbau, als Zerstörungswerk, das unter Vorwänden wie 'wirtschaftlicher Nutzen' und 'kulturelle Entwicklung' auf die Vernichtung des Lebens ausgerichtet sei. Ernst Jüngers theoretisches Hauptwerk von 1932, "Der Arbeiter", sinnt auf Alternativen. Folgt man der Argumentation von Gilbert Merlio (Paris), so schlägt Jünger im "Arbeiter" vor, die herkömmlichen Grundlagen der kulturkritischen Technikkritik zu negieren. Der zerstörerischen, nihilistischen Urgewalt der Technik sollen "ethisch-politische Haltungen" abgetrotzt werden, die dem Leviathan und seiner "technischen Ordnung" Widerstand zu leisten vermögen. Bei Jünger sind sie exemplifiziert in der Figur des 'Waldgängers' und des 'Anarchen'. Eine bemerkenswerte, wenn auch gewagte Lesart, denn weder der Waldgänger noch der Anarch haben ein Interesse daran, Widerstand zu leisten: Der Anarch will nur sich selbst beherrschen und meidet die Zentren der Macht; der Waldgänger richtet sich abseits des Leviathans ein und hat der Gewalt der modernen Technik ebenfalls nichts entgegenzusetzen. Und weder dem einen noch dem anderen bietet die Welt einen "Naturschutzpark", in dem sich unbehelligt leben ließe. Das Beispiel Manuel Venators zeigt dies nur zu deutlich.

Friedrich Gaede (Halifax) interpretiert Jüngers Werk als Versuch, das "Chaostier Leviathan" geistig zu bewältigen. Er weist Jüngers Rückführung der Gestalt des Arbeiters auf Leibniz und seine Monadologie als "ungeeignet" zurück und liest aus diesem 'Missverständnis' eher eine Nähe zum "mechanistischen Denken" der Vor-Leibniz-Zeit heraus. Modelle wie Jüngers "organische Konstruktion" führt er auf barockes Denken zurück. Der Realitätsbegriff des Barock ist in der Tat ein weiterführender Verstehenshorizont für die Technikphilosophie der Brüder Jünger, so wie auch das Denksystem der Goethezeit und ihre Teilphase, die Romantik. Gaede kann zeigen, dass Ernst Jüngers Gestaltbegriff in seinem Spätwerk durch intensive Leibniz-Rezeption teilweise revidiert wird. Ein herausragender Beitrag dieses Sammelbandes.

Thomas Löffler (Heidelberg) führt Ernst Jüngers Technikphilosophie mit der Biotheorie seines Leipziger Lehrers Hans Driesch (1867-1941) zusammen. Ganz unverhofft kommt Driesch, dieser auch für den Vitalismus wichtige Entwicklungsphysiologe und Philosoph, den Jünger in seinen Tagebüchern nie erwähnt hat, in "Titan Technik" zu Ehren, und zwar nicht nur in Löfflers Beitrag, sondern auch bei Ulrich Mottel (Dresden) und Thomas Pekar (Dortmund). Löffler kann zeigen, dass die "Ganzheitskausalität", die "ganzmachende Kraft des Keimes", die Driesch mit Rückgriff auf Aristoteles als "Entelechie" fasste, zu einer platonisierenden, "gnostisierenden Metaphysik" erweitert ist. Bei Thomas Pekar kommt dann am Rande auch Goethes Entelechie-Begriff als teleologischer Naturfaktor in den Blick. Als zentrale Erkenntnis arbeitet Pekar für Driesch wie für Jünger heraus, dass Entelechie als eine regulative Wirkursache verstanden wird, die selbst nicht gezeigt werden kann, sondern sich 'nur' anhand ihrer Folgen, ihres "Gewirkthabens" zeigen lässt. Ähnliche Denkfiguren weist Rolf Peter Sieferle (Mannheim) für Friedrich Georg Jünger nach, indem er demonstriert, dass der "Perfektion der Technik", F. G. Jüngers theoretischem Hauptwerk von 1946, eine "Vollendungslogik" innewohnt. Im Denksystem der Weimarer Republik, so Sieferle, gab es überhaupt nur zwei "welthistorische Subjekte", denen eine Instrumentalisierung der Technik im Sinne einer Beherrschung der Mittel zugetraut wurde: 'Proletariat' und 'Volk'. Das souveräne Proletariat der marxistischen Theorie fußte auf der Rationalität der Produktivkräfte und ihrer technisch-ökonomischen Prinzipien, das "Volk" wurde von den Nationalisten zum Subjekt stilisiert, das sich die Technik zum Zwecke der 'Selbstverwirklichung' dienstbar machte.

Stefan Buck (Heidelberg) bettet Ernst Jüngers Modernekritik in Untergangsbilder der Fin de Siècle-Literatur ein, kann aber nicht als Beitrag zur Jünger-Forschung gewertet werden. Auch ist seine Textbasis zu schmal, um Repräsentativität für die Epoche beanspruchen zu können. Caroline Mary (Heidelberg) hingegen bindet ihre Darstellung des Technikproblems in der französischen Literatur der Jahrhundertwende immer wieder an Jünger-Lektüren zurück.

Thomas Pekar, der 1999 ein Buch über Ernst Jüngers Orient-Rezeption vorgelegt hat (siehe Rezension in literaturkritik.de), untersucht einen häufig thematisierten Exotismus in Ernst Jüngers Frühwerk, nämlich die Symbiose von Mensch und Maschine in der "Organischen Konstruktion", die als Ein-Mann-Torpedo der japanischen Kamikaze-Piloten eine reale Entsprechung erfahren hat. Pekars allzu flüchtige Begriffsgeschichte des "Organischen" wäre mit Friedrich Gaede und dessen Hinweis auf Barock und Romantik zu erweitern. Der Verfasser führt den Ursprung der "organischen Konstruktion" bei Jünger spekulativ auf die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges zurück, bleibt aber andere mögliche Impulse schuldig, die Lektüren etwa, die zwar erwähnt werden, aber als prägend nur für den Typus des "Helden". Anregend hingegen sind Pekars Ausführungen zur "Arbeiter"-Schrift von 1932, insofern er zeigen kann, dass dieser Text als synkretistisches Mixtum compositum zu lesen ist. Nur verfehlt dieser Diskursmix das 'Organische' im Sinne einer homogenen, in sich widerspruchsfreien und zweckmäßigen Konstruktion.

Günter Seubold (Bonn) untersucht Heideggers Verhältnis zu Jünger und geht dabei schlüssig von der Subjektkonstitution der Neuzeit aus. Sein Manko ist, dass er sich begrifflich von Heidegger nicht zu lösen vermag und auch Jüngers Termini in dessen opake Sprachwelt zu übersetzen versucht: "Man versteht diesen Begriff der Arbeit also erst ganz, wenn man ihn mit dem Begriff der Vergegenständlichung bzw. der Her-Stellung, und diese wiederum im spezifisch Heideggerschen Sinne, zusammendenkt: als ein sich, dem Subjekt, Gegenüber-Stellen und ein auf sich, das Subjekt, Zu-Stellen, also als ein Sich-gegenüber-auf-sich-zu-Stellen." Die mögliche Kompatibilität beider Ansätze muss in solchem Gestammel ungeklärt bleiben. Fragwürdig, sowohl in formaler wie sprachlicher Hinsicht, ist auch Jacqueline Bels Essay über Friedrich Georg Jünger. Die Autorin aus Boulogne-sur-Mer vertritt neben Danièle Beltran-Vidal (Chambéry) und François Poncet die französische Jünger-Forschung. Bei Jacqueline Bel weiß man jedoch oft nicht, ob ihre 'Paraphrasierungen im Plauderton' auf Jünger zurückgehen oder freie Assoziationen sein sollen über Themen wie "Die Verstrickung des Menschen in Apparatur und Organisation" und "Die Verantwortung der Techniker und der Konsumgesellschaft". Zitate werden in diesem Besinnungsaufsatz nur selten und dann wenig aussagekräftig nachgewiesen. Ihre französischen Kollegen Danièle Beltran-Vidal ("Überlegungen der Brüder Jünger zum Wesen und zur Aufgabe der Sprache) und François Poncet ("Das Vexierbild der 'Organischen Konstruktion'. Vom technischen Zugriff zum apokalyptischen Schau-Spiel") gehen deutlich präziser auf die Texte ein. Beltran-Vidal stellt die Ästhetik der Brüder Jünger in den Dienst ihrer Ethik, François Poncet kann zeigen, dass auch der Maschinenkrieg bei Ernst Jünger "Offenbarung des Bios" ist. Sein Aufsatz besticht durch eine überzeugende Einbeziehung des scheinbar Abwegigen und Digressiven in Jüngers Werk. Außerdem bindet er, wie in diesem Band vorbildlich Harro Segeberg, seine Lesarten immer an den Erwartungshorizont der Primärrezipienten zurück.

Harro Segeberg (Hamburg) liest Ernst Jüngers Erzählung "Gläserne Bienen" (1957) vor dem Hintergrund der literarischen und theoretischen Auseinandersetzungen der Adenauerzeit. Seine theoretischen Hauptbezugstexte stammen von Günther Anders ("Die Antiquiertheit des Menschen", 1956), Martin Heidegger ("Die Frage nach der Technik", 1954) und Karl Jaspers ("Die Atombombe und die Zukunft des Menschen", 1957), seine literarischen von Gottfried Benn ("Der Radardenker", 1949), Bertolt Brecht ("Anmerkungen zum 'Leben des Galilei'" 1946/47), Max Frisch ("Homo Faber", 1956), Hans Henny Jahnn ("Perrudja", Neuausgabe 1958) und Arno Schmidt ("Schwarze Spiegel", 1951). Friedrich Georg Jüngers "Perfektion der Technik" betrachtet er mit den Augen Max Benses, der dem Autor vorwarf, "keine klaren Vorstellungen von den Prinzipien der Naturwissenschaften" zu haben. Segeberg kann zeigen, dass Jünger in "Gläserne Bienen" einen meta-historischen Argumentationsweg beschreitet, der "deutlich mit Versatzstücken einer bildungskonservativen Technik- und Moderneverachtung" operiert, sich zugleich aber von diesem Weg ironisch distanziert. So überzeugend ist Jünger selten unter Ironieverdacht gestellt worden, und man darf Segebergs konsequentes Verfahren der Rehistorisierung und Kontextualisierung als Anregung begreifen, dieser Doppelbödigkeit in Jüngers Œuvre weiter nachzuspüren.

Mit großem Gewinn sind auch die Beiträge von Ulrich Fröschle und Helmut Mottel (beide Dresden) zu lesen. Fröschle untersucht Friedrich Georg Jüngers "Revision des technischen Machtanspruchs", Mottel das Verhältnis von Technik, Wissenschaft und Glaube in zwei wiederentdeckten Texten der Brüder aus den Jahren 1927 bzw. 1933. Konsequent historisierend wie Segeberg geht Fröschle von zwei extrem gegensätzlichen Positionierungen Friedrich Georg Jüngers aus, die den Fortschritt in der Kriegstechnologie einerseits schrill begrüßen (der Verfasser spricht zu Recht von einer "fast futuristischen Provokation") und ihn andererseits zutiefst bedauern. Die Argumentation ist dabei nicht auf eine Entwicklung von der Technikbejahung zur Technikkritik gerichtet, sondern schön textnah auf den durchgängigen Affekt gegen die moderne Technik, der von den frühen Texten her konstant bleibt. Bei Helmut Mottel erscheint mir ein Aspekt besonders hervorhebenswert: Seine Lesart der "Subtilen Jagden" (1967) als "autobiographisches Erinnerungsspiel", mit dem Ziel, die eigene "Lebensgeschichte" mit Hilfe eines "naturwissenschaftlichen Diskurses" im Geiste Linnés zu vernetzen. Dieses Verfahren ließe sich auch für andere Texte nachweisen, etwa für das Drogen- und Rausch-Buch "Annäherungen" (1970).

Olaf Schröter (Berlin) untersucht den "Titanenmythos" bei den Brüdern Jünger, und Klaus Gauger (Freiburg), der 1997 das kriegerische Frühwerk Ernst Jüngers in seiner Dissertation behandelte [siehe Gauger-Rezension in literaturkritik.de], widmet sich schließlich Friedrich Georg Jüngers "Perfektion der Technik", um den Autor als Ökologen "avant la lettre" zu erweisen. Bibliographien von Nicolai Riedel (Marbach) und Ulrich Fröschle und eine Reproduktion eines Bildes von A. Paul Weber ("Die Schachspieler", 1934) runden den insgesamt lohnenswerten Band ab. Bedauerlich ist die schwache redaktionelle Leistung von Herausgeber und Verlag, denn weder folgen die Beiträge einer einheitlichen Zitierweise, noch ist der Band offensichtlich Korrektur gelesen worden. Zudem fehlt ein bei einem solchen Unternehmen eigentlich unverzichtbarer Index der Namen und Sachen. Nicht alle Beiträge, so ist abschließend zu konstatieren, bauen wirklich Brücken zwischen den Brüdern oder können sich von den Klischees der Jünger-Rezeption befreien, nicht wenige neigen zu bedenklichen Generalisierungen, wie etwa Löffler, wenn er den Begriff der "Harmonie" bemüht, um Ernst Jüngers Überzeugung von der Koordinierbarkeit von Mensch und Kosmos zu zeigen.

Titelbild

Friedrich Strack (Hg.): Titan Technik. Ernst und Friedrich Georg Jünger über das technische Zeitalter.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
312 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3826017854

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch