Führung durch Stahlgewitter und Waldgänge

Steffen Martus gibt einen exzellenten Überblick über das Werk Ernst Jüngers

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eine Sekunde nach seinem Tod wird Jünger bei Goethe sein, wird ohne Wartezeit den Klassikerstatus erhalten. Jeder weiß das, und wer es nicht weiß, ist nicht satisfaktionsfähig." Also sprach Helmut Krausser in seinem Tagebuch des Juni 1993, viereinhalb Jahre vor Ernst Jüngers Tod. Diese höchste Wertschätzung eines jüngeren (und wer war das nicht in den 90er Jahren) Kollegen ist beileibe kein Einzelfall. Heiner Müller und Botho Strauß wären weitere Beispiele, an denen sich darüber hinaus zeigen lässt, dass eine Befürwortung des Jünger'schen Werks durchaus nicht durch politische Ausrichtung prädeterminiert sein muss. Zwar sind auch heute gewiss noch nicht alle Schlachten über Jüngers Werk geschlagen - zu vieldeutig und enigmatisch sind manche seiner Werke -, dennoch zieht es mittlerweile keine automatisierten ideologischen Verdächtigungen mehr nach sich, wenn man sich für Jüngers Literatur auszusprechen wagt, was ja durchaus nicht immer der Fall war.

Wie aber soll jemand, der bereit wäre, in den Jünger'schen Kosmos initiiert zu werden, nun verfahren, steht er doch einem uferlosen achtzigjährigen Schaffen zunächst ratlos mit der Frage gegenüber: Wo beginnen? Denn bei Jünger macht es kaum Sinn, wahllos irgendeinen Text herauszupicken, da sich der Sinn des Einzelwerks in diesem Fall oftmals erst im Kontext des Gesamtschaffens erschließt. Vorwissen tut also Not, und das ist jetzt in konziser Form und obendrein preiswert zu haben mit Steffen Martus' erstklassigem Bändchen, das in der renommierten "Sammlung Metzler"-Reihe erschienen ist.

Zunächst ist positiv zu werten, dass Martus keine Schwerpunkte legt, sondern immer den "ganzen" Jünger im Auge behält (wobei er neben den genuin literarischen Texten auch die Essayistik und Publizistik im Auge behält). Dies ist umso mehr hervorzuheben, als in der Forschung das Hauptaugenmerk bislang auf dem Frühwerk von den "Stahlgewittern" (1920) bis zu "Auf den Marmorklippen" (1939) liegt. In Martus' Übersicht spielt jedoch auch die Schaffensphase nach 1945 bis zu Jüngers Tod 1998 eine gleichgewichtige Rolle, wodurch auch bislang eher weniger beachteten Texten wie dem utopischen Roman "Eumeswil" (1977) oder dem Kriminalroman "Eine gefährliche Begegnung" (1985) verdiente Aufmerksamkeit zuteil wird. Martus begreift das Gesamtwerk Jüngers als eigenes literarisches Subsystem innerhalb des literarischen Systems der Moderne, zu dem es in einem hochkomplexen Spannungsfeld steht. Denn so sehr sich Jüngers Texte aus Diskursen der Moderne (wie dem "Vitalismus" oder der "Lebensideologie") bzw. im Alterswerk auch aus Diskursen der Postmoderne speisen, genauso sehr stehen sie in ihrer rätselhaften Privatmetaphysik und ihren zumindest auf den ersten Blick absonderlichen Ideologemen immer wieder quer zu gängigen literarischen Strömungen. Gerade was die eigentümliche esoterische Ebene im Werk Jüngers anlangt, ist ein geländeerfahrener Führer wie Martus notwendig, da man sich ohne solches Geleit leicht im metaphorischen Dickicht von Jüngers "Waldgängen" verirrt.

Martus hat es sich sympathischerweise zum Programm gemacht, dem Jünger'schen Œuvre in erster Linie deskriptiv und nicht kritisch-präskriptiv zu begegnen, d. h. die Texte Jüngers werden im Prinzip vorurteilsfrei beschrieben, wodurch der Leser die Freiheit erhält, selbst zu urteilen. Zwar durchbricht Martus dieses selbst auferlegte Prinzip der entspannten Zurückhaltung gelegentlich, so z. B. bei dem Abschnitt über den utopischen Roman "Heliopolis" (1949), dem er u. a. seine "schwülstige Erotik" und seine "Elitekonzeption" vorhält, aber solche Ausbrüche sind eher selten. Des Weiteren gelingt es Martus, die Literatur Jüngers in dessen Biographie zu verorten, ohne die Texte über Gebühr aus dieser heraus zu interpretieren. So werden en passant auch in Kurzform die wichtigsten Lebensabschnitte des Autors umrissen und somit die jeweilige zeitliche Situierung, in der die Werke entstanden. Steffen Martus übersieht dabei nicht, die einzelnen Fassungen eines jeden Textes mit in seine Darstellung einzubeziehen, was bei einem Autor wie Jünger, der aus seiner Poetologie heraus jeden Text nur als vorläufigen, weil per se mangelhaften Versuch ansah, ein unumgehbarer Aspekt einer Werkübersicht sein muss. Das Beispiel der notorischen "Stahlgewitter", von denen es sieben (sic!) verschiedene Fassungen gibt, die sich teilweise massiv voneinander unterscheiden, soll hier genügen, um zu verdeutlichen, vor welchen ganz grundsätzlichen Problemen man bei der Beschäftigung mit dem rastlosen Umschreiber Ernst Jünger steht.

So gibt es an diesem informativen Buch eines kundigen Jünger-Experten nicht viel zu bekritteln. Lediglich der etwas merkwürdige, weil der chronologischen Einteilung zuwiderlaufende Exkurs innerhalb des Großkapitels "Drittes Reich", worin "Subtile Jagden" (1967), "Annäherungen" (1970) und "Die Zwille" (1973) abgehandelt werden, erscheint gliederungstechnisch wenig befriedigend, weil thematisch nicht zwingend und leicht auf elegantere Weise lösbar. Aber eine solche kleinere formale Schwäche fällt natürlich angesichts der enormen Leistung, die Martus erbringt, nicht ins Gewicht. Denn vor allem anderen macht dieses kleine Büchlein einfach Lust, sich wieder mit dem in vielerlei Hinsicht gewaltigen Werk der "Sphinx von Wilflingen" auseinanderzusetzen, was, angesichts der Tatsache, dass Jünger in Deutschland gerne missverstanden oder gleich ganz übergangen wird, dringend Not tut.

Titelbild

Steffen Martus: Ernst Jünger.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2001.
272 Seiten, 13,70 EUR.
ISBN-10: 3476103331

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