Zwischen Subjektivität und Authentizität

Volker Mergenthaler zum poetologischen Problem narrativer Kriegsbegegnung im Frühwerk Ernst Jüngers

Von Reinhard WilczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Wilczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch drei Jahre nach dem Tod des beinahe 103 Jahre alt gewordenen Ernst Jüngers ist der Impetus der Forschung ungebrochen. Immer wieder erscheinen neue wissenschaftliche Publikationen und Editionen des Jüngerschen Œuvres auf dem Markt. Zuletzt hat der Tübinger Literaturwissenschaftler Volker Mergenthaler eine Untersuchung zu Jüngers frühen Texten "In Stahlgewittern" (1920), "Der Krieg als inneres Erlebnis" (1925) und "Sturm" (1923) publiziert. Der Ausgangspunkt für Mergenthalers Studie ist die These, dass diese Werke unter der Optik einer ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des modernen Krieges verfasst worden sind, die sich "unter den Begriffen Sakralisierung, Mythologisierung und Spiritualisierung systematisch verbinden" lassen. Der Tübinger Germanist bemerkt in seiner Einleitung nicht ganz zu Unrecht, dass die Literarizität der Jüngerschen Texte bisher "nur selten im Blick literaturwissenschaftlicher Untersuchungen" gestanden habe. Man wird dieser Einlassung freilich entgegenhalten müssen, dass gerade in jüngerer Zeit eine Reihe von Arbeiten erschienen sind, die sich dem Phänomen Jünger eher von poetologischer Seite zu nähern versucht haben (vgl. etwa die Arbeiten von Jürgen Kron, Claudia Gerhards und Norbert Staub).

In den Anfangskapiteln seiner Studie verweist der Tübinger Literaturwissenschaftler darauf, dass in Jüngers "Stahlgewittern" die Ikonographie des Sakralen eine wichtige Rolle spielt und an vielen Stellen des Textes Anleihen am Genre der Leichenrede gemacht werden. Diese Beobachtungen sind indes von Thomas Pekar ("Ernst Jünger und der Orient") zuletzt mit einiger Genauigkeit dargestellt worden und werden zudem von jenem in den zentralen zeitgeschichtlichen Zusammenhang der durch Baeumler angeregten Bachofen-Rezeption gestellt. Allerdings vermag Mergenthaler diese Gefallenen-Metaphorik mit einiger Überzeugung in den Kontext des politischen Denkmalkults der Weimarer Republik einzuordnen und dadurch auch übergreifende politische Sinnkonstruktionen dieses poetischen Konstruktivismus zu verdeutlichen. Die Analysen zur literarischen Onomastik und ihr Bezug zum Heroismus vermögen dagegen weniger zu überzeugen, da die angeführten Textbelege etwas dünn sind und der spekulative Zugriff zu überwiegen scheint. Daneben wird die von Mergenthaler stark herausgearbeitete Tanzmetaphorik bereits bei Modris Eksteins ("Rites of Spring") ausführlicher berücksichtigt.

Neu ist dagegen die prononciert mythologische Auslegung des Essays "Der Kampf als inneres Erlebnis", die sich am Medusa-Komplex und der Spiegel-Symbolik orientiert. Allerdings münden Mergenthalers Beobachtungen auch hier in eine These, die kaum neu genannt werden kann: "Nur wer sich wie Perseus eines medialen Tricks bedient und den Krieg im 'Spiegel' der Zeichen 'betrachtet', verfügt über ausreichend großen 'Abstand', um von der fatalen Wirklichkeit des Schrecklichen nicht erfasst zu werden". Man wird in diesem Aspekt der spezifisch jüngerschen Kriegsoptik - auch ohne das Gorgonenmotiv - unschwer einen der zentralen Diskussions- und Streitpunkte im Werk Jüngers ausmachen können. Auch die ins Spiel gebrachte Grenzgänger-Thematik, die in erster Linie mit biblischen Vorgaben konnotiert wird, findet in dem bekannten Kriegsbuch von Walter Flex ("Der Wanderer zwischen beiden Welten") - das in diesem Kontext als wichtiger Bezugstext nachzutragen wäre - eine wichtige Präfiguration.

Hilf- und aufschlussreich sind schließlich Mergenthalers Ausführungen zum intertextuellen Spiel in Jüngers Novelle "Sturm". Die von dem Tübinger Germanisten herausgearbeiteten Anspielungen und Verweise auf Boccaccios "Decamerone" haben bisher kaum Beachtung gefunden und können als wichtige Bausteine für ein tieferes Verständnis dieses immer noch etwas gering geschätzten Jugendwerkes gelten, dessen komplexe Narrativik in den letzten Jahren immer stärker sichtbar gemacht worden ist. Die bereits von Hans-Harald Müller und Jürgen Kron hervorgehobene erzählerische Multiperspektivität der Novelle wird von Mergenthaler weiter entfaltet und ausdifferenziert. Insbesondere die von dem Tübinger aufgezeigten Verbindungslinien zum literarischen Avantgardismus der frühen 20er Jahre, wie sie sich vor allem in den Beiträgen der von Herwarth Walden herausgegebenen Zeitschrift "Sturm" manifestieren, dürften auf den frühen Jünger in dieser Künstlernovelle nachhaltig eingewirkt haben.

In summa wird man Mergenthalers Interpretationsstudie, der man eine sichere Verfügbarkeit des umfangreichen sekundärwissenschaftlichen Schrifttums über Jünger kaum bescheinigen kann, als eine jener Arbeiten zu verorten haben, die neben vielen altbekannten Erkenntnissen zumindest partiell Neues und Überraschendes zutage bringt und dabei auch erneut feststellen können, dass selbst über das mittlerweile stark abgearbeitete Frühwerk Ernst Jüngers noch längst nicht alles gesagt worden ist.

Titelbild

Volker Mergenthaler: Versuch, ein Dekameron des Unterstandes zu schreiben. Zum Problem narrativer Kriegsbegegnung in den frühen Prosatexten Ernst Jüngers.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2001.
163 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 382531281X

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