Arbeiten und beten

Heinrich Bölls "Briefe aus dem Krieg"

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, ein Thomas Mann ist Heinrich Böll gewiss nicht, obwohl das, was er in sechs Kriegsjahren über sich und seine Situation zu Papier gebracht hat, an Umfang durchaus den Tagebüchern seines Nobelpreiskollegen entspricht. Dass die Mitteilungen vom lieben "Hein" flugs zum "bedeutendsten Werk des Schriftstellers" erklärt wurden, so Hans Wollschläger in der F. A. Z., teilen sie ebenfalls mit den Diarien des Lübeckers. Auch die intensive Selbstbespiegelung, die in den Briefen zum Ausdruck kommt, überrascht bei einem Autor, der wegen seiner ausgeprägten sozialen Einstellung oft als "der gute Mensch von Köln" apostrophiert wurde.

Doch der Reihe nach: Zunächst einmal geben die Briefe aus der Zeit vom 30. August 1939 bis zum 3. April 1945 Auskunft über einen Lebensabschnitt des Schriftstellers, der in einem großen Teil seines Werkes von entscheidender Bedeutung ist, so dass sich hier wohl erstmals ein gesicherter Zusammenhang zwischen biographischer Erfahrung und literarischem Text herstellen lässt. Daneben bieten sie eine hervorragende Quelle zur Geschichte von unten, indem sie den Alltag eines Soldaten in Diktatur und Krieg widerspiegeln. Hierbei bedürfen sie jedoch, wie auch das informative Nachwort einräumt, der sorgfältigen Analyse, weil sie unter den Bedingungen einer strengen Zensur entstanden sind, deren Unwesen so mancher, etwa Wolfgang Borchert, zum Opfer fiel.

Die Briefe des ersten Jahres, bis Herbst 1940, sind ausschließlich an die Eltern und Geschwister gerichtet. Sie folgen alle einem höchst simplen Muster, das mit: "Liebe Eltern, mir geht es gut, macht Euch keine Sorgen, sondern schickt mir weiterhin Geld und Zigaretten" hinlänglich beschrieben wäre. Bemerkenswert ist vielleicht der nicht ganz ernst gemeinte Nachsatz: "Gott strafe England!"

Seit Ende 1940 richtet sich jedoch der größte Teil der Briefe an Bölls spätere Ehefrau Annemarie Cech, die hier auch ein kurzes Vorwort geschrieben hat. Ihre Antwortbriefe sind leider nicht abgedruckt, was den Quellenwert der Ausgabe erheblich mindert.

Böll sah offenbar im Schreiben zunächst ein wichtiges, wenn nicht das einzige Kommunikationsmittel, wähnte er sich doch im Arbeitsdienst und später besonders in der Kaserne von allem ausgeschlossen, was ihm wertvoll war. Wo und wann immer es der Dienst zuließ, schrieb Böll, so dass oft mehrere Briefe am Tag an die Adressatin abgingen. Dass er den Krieg verdammt, überrascht nicht; erstaunlicher ist es schon, dass er sich darüber hinaus als großer Menschenfeind geriert. Dem Besatzungssoldaten in Flandern erscheint die Bevölkerung pauschal als "büffelig", und den "holländischen Bummsköpfen" missgönnt er in grotesker Verdrehung "das herrliche Leben". Unterschiedslos verachtet er fast alle Menschen, mit denen er als Soldat zusammentrifft, selbst wenn sie dem entsprechen, was man gemeinhin als rheinische Lebensart bezeichnet: "[...] hasse ich bis aufs Blut alle die Leute, die sich bedenkenlos egoistisch freuen können, eben alle Schwachköpfe und Bürger". Ursache dafür ist die merkwürdige Außenseiterrolle, in der sich der Mittzwanziger gegenüber seiner Briefpartnerin gar zum katholischen Märtyrer stilisiert: "Es gibt so wenig Menschen, die an Christus glauben... Du weißt, daß es mein geheimer und sehnlichster Wunsch ist, auch so zu wirken und zu zeugen für das Reich Gottes, für die lebendige Wirklichkeit des Kreuzes, das eingetaucht ist in Leid und überströmt von Blut; umgeben von Erniedrigung und Schmach und Hohn, tausendmal am Tage verkauft und verraten und so unsagbar wenig geliebt und wirklich verehrt." In den Briefen finden sich manche Hinweise auf die Ursprünge jenes kämpferisch-provinziellen Katholizismus, den Böll bis in die sechziger Jahre vertreten hat.

Überhaupt sind die Briefe dort am interessantesten, wo sie Risse und Brüche gegenüber dem späteren Böll-Bild offenbaren. Musste er etwa noch 1943 schreiben: "...ich hasse den menschenunwürdigen preußischen Drill wie nichts auf der Welt, aber ich möchte, daß Deutschland siegt"? Verständlicher erscheint die Klage über die verlorene Zeit ("mehr als drei Jahre Unfruchtbarkeit habe ich jetzt hinter mir"). Zur Verzweiflung über das Fremdbestimmtsein gesellt sich immer wieder ein reichlich idealistisches Lebensziel: "dann werde ich arbeiten, arbeiten und beten... und einmal nicht gefangen, nicht schmutzig und verschwitzt und verklebt in diesen Kleidern". Das ist bereits der Ton der späteren Trümmerliteratur, mit der sich die Leserschaft der Nachkriegszeit die Transzendenz ins Wirtschaftswunderland hineinholte. Die Mär vom einfachen Leben führt dann zu solch erstaunlichen Bekenntnissen und Briefpassagen wie: "Ich finde überhaupt das Siedlertum, diese Kraft, alle Kultur und Zivilisation abzuwerfen und ganz, ganz neu zu beginnen, hat etwas berauschend Absolutes; auch am Soldatentum zieht mich dieses Absolutgestelltsein ungeheuer an, und es reizt mich geradezu; deshalb ist meine soldatische Sehnsucht wirklich, immer an der Front zu sein... gerade jetzt, wo wieder eine Offensive in Gang ist - und es muß doch herrlich sein, in diese unendliche Weite Rußlands vorzustoßen - ich leide maßlos darunter, so immer und immer den Krieg nur im Schatten, nur in Schulen oder Kasernen zu verleben und zum allergrößten Teil in dumpfen und dreckigen Stuben, wie ein in Ehren Gefangener."

Hier ist noch kein literarischer Nukleus zu entdecken, hier fällt kaum ein poetischer Blick auf eine Welt im Ausnahmezustand, hier ist lediglich ein Schriftsteller in Wartestellung zu beobachten: "[...] was man in all diesen Stunden, Monaten und Jahren schon hätte tun können; nur daran zu denken ist schon zum Verrücktwerden". Selten nur berührt Böll die mörderischen Schrecken des Krieges. An Kampfhandlungen hat er, obwohl von Anfang bis zum Ende dabei, lediglich in Russland und dort auch nur wenige Tage bis zu einer relativ leichten Verwundung teilgenommen.

Nur wenig ist zu spüren in diesen Briefen von einem wirklich dialogischen Bedürfnis, wie es etwa Goethes Briefwechsel auszeichnet. Zu sehr geht es Böll um die eigenen Nöte. Allzu Persönliches, auch Anreden und Grüße hat allerdings Annemarie Böll getilgt.

Und trotzdem ist diese wie ein Geröllfeld wirkende Briefsammlung ein bemerkenswertes Stück Literatur; dokumentiert sie doch die Auflösung einer bürgerlichen Welt und vor allem einer Ordnung, die tausend Jahre dauern sollte, und zugleich die sisyphoshafte Auflehnung eines Einzelnen dagegen. Die Wirren der Zeit lassen sich durch den umfangreichen Stellenkommentar hervorragend nachvollziehen. Allein das dichte Netz der Ortsnamen verrät etwas über das Chaos, das die Nazis in Europa anrichteten. Böll entzaubert Hitlers Götterdämmerung. Indem er sich inmitten von Anarchie, Wahnwitz und Zerstörung durch beinahe manisches Schreiben einen Platz zu sichern suchte, schuf er eine der Grundlagen, auf der eine bessere Nachkriegswelt errichtet werden konnte.

Titelbild

Heinrich Böll: Briefe aus dem Krieg 1939-1945. 2 Bände.
Herausgegeben und kommentiert von Jochen Schubert.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
1652 Seiten, 65,90 EUR.
ISBN-10: 3462030221
ISBN-13: 9783462030228

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