Das Feuilleton und der Intellektuelle

Drei Untersuchungen widmen sich der jüdischen Selbst- und Fremdwahrnehmung

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Ausmerzung des Judentums aus dem deutschen Feuilleton" sowie die "Einbeziehung des Wiener Feuilletons ins kulturelle Reichsbewußtsein" bezeichnet der Zeitungswissenschaftler Wilhelm Haacke in seiner 1943 erschienenen Habilitationsschrift als die vorrangigen Aufgaben deutscher Feuilletonkunde. Es dürfe nicht sein, dass mit dem Begriff 'Feuilleton' stets nur die Namen Börne und Heine in Verbindung gebracht würden. Der 'jüdische' Wortwitz, der 'jüdische' Hang zur Selbstverhöhnung zersetze "Liebe und Ehrfurcht vor dem Vaterland". Durch gesucht nachlässigen, schillernden, flunkernden Stil versuchten die 'jüdischen' Feuilletonisten, so Haacke weiter, das "Unvermögen ihres kleineren Geistes" zu überspielen und durch "sprachliches Mauscheln" konkrete Inhalte zu ersetzen. Woran das 'jüdische' Feuilleton auch in erster Linie appelliere, sei eben nicht das Gemüt ihrer 'deutschen' Leser, sondern das "intellektuelle Sensationsbedürfnis des modernen, gehetzten Menschen der Großstadt".

Wie Hildegard Kernmayer in ihrer Untersuchung "Judentum im Wiener Feuilleton" zeigt, ist die Diskussion um die Besonderheit 'jüdischer' Sprachhandhabung kein Novum des modernen antisemitischen Diskurses über Presse und Judentum, aus dessen Fundus das Haacke-Zitat stammt, sondern ein "traditionsreiches Spezifikum im Kanon judenfeindlicher Zuschreibungen". Dem seit dem beginnenden 19. Jahrhundert begegnenden Willen zur Überwindung des Jiddischen auf Seiten der Juden steht das antisemitische Diktum gegenüber, wonach 'jüdische' Sprech- und Denkweise naturgesetzlich festgeschriebene Merkmale der jüdischen 'Rasse' seien. Mit zunehmender Ununterscheidbarkeit der Anderen steigt dadurch das Bedürfnis, diese dennoch zu unterscheiden. Mangelnde Evidenzen müssen, wie Kernmayer weiter ausführt, "(re-)konstruiert, jüdische Andersheit, die nicht mehr eindeutig als solche identifizierbar ist, als 'verborgen' definiert und fortgeschrieben werden". Vor allem die stets latente Angst vor 'Zersetzung', 'Verunreinigung', 'Verjudung' der 'deutschen' Sprache und damit auch der 'deutschen' Gesellschaft ist es, die den Antrieb bestimmt, das 'jüdische' Substrat zu identifizieren. Besonders der Terminus "Mauscheln" wird in dieser Zeit zur abschätzigen Bezeichnung für die Sprechweise von Juden, um schließlich im antisemitischen Diskurs des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert als "Emblem jüdischer Identität", als "Symbol für das verlogene, betrügerische und materialistische Wesen", das man den Juden zuschreibt, zu fungieren. 'Jüdisches' Sprechen, 'jüdisches' Denken, 'jüdisches' Wesen sind gleichbedeutend und werden mit dem Begriff "Mauscheln" umrissen.

Wird mit der Darstellung des 'mauschelnden' Juden die sogenannte 'jüdische' Denkweise immer auch über sprachliches Fehlverhalten (Akzent, Syntax) indiziert, so verhält es sich in antisemitischer Stilkritik anders. Die 'Beweisführung' setzt hier nicht am fehlerhaften Gebrauch der Sprache jüdischer Autoren oder Figuren an, sondern einzig an deren angeblich spezifischer Denkweise, deren Ausbildung durch Herkunft und Sozialisation begünstigt sei. 'Jüdisches' Denken, an der jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit dem talmudischen Schrifttum geschult, schlage sich mit allen Besonderheiten, die diesem Text eigen sind, in der Literatur jüdischer Autoren und speziell in der Textsorte Feuilleton nieder. 'Wortkasuistik', 'spitzfindiges Wortspiel', 'Antithese', 'blendende Wortartistik', die Haacke und Adolf Bartels den Feuilletons verschiedener jüdischer Autoren nachsagen, sollen aus dem Herkommen der Autoren aus der jüdischen Kulturtradition ableitbar sein.

Doch nicht nur antisemitische Kritiker, sondern auch jene Theoretiker, die, teilweise selbst jüdischer Herkunft, den Nachweis über die jüdische Teilhabe an der mitteleuropäischen Kultur führen, sind von der Existenz einer 'jüdischen' Literaturästhetik überzeugt, die sich ausgehend von der Struktur der Talmud-Interpretation entwickelt habe. So weist etwa Ernst Simon auf Elemente jüdischen Erbes in Hofmannsthals imaginativer Welt hin. Das Bild "der göttlichen Gerechtigkeit der Sprache", das Karl Kraus in seinem Werk zeichnet, gilt wiederum Walter Benjamin als Ausdruck jüdischer Religiosität. Bezieht sich Benjamin mit der Situierung der Kraus'schen Sprachkritik in der halachischen (und nicht der haggadischen!) Denktradition vor allem auf inhaltlich-programmatische Aspekte von dessen essayistischen Texten, so setzt Arnold Zweig in seiner Verortung des 'Jüdischen' in der modernen Ästhetik den Schwerpunkt auf formal-stilistische Phänomene, wenn er etwa in Alfred Polgars Feuilletonsammlung "An den Rand geschrieben" die Marginalientechnik klassischer Talmudkommentare wiedererkennt. Zweifelsohne übersieht Zweig in seinem Vergleich der Texte Polgars und der klassischen Talmudim das Abhanden-Kommen des 'Zentrums' in Polgars Text, auf das allein die Marginalie sich beziehen könnte. Ist die Funktion talmudischer Kommentartechnik noch festgelegt - Auslegung konkreter Lebensregeln für konkrete Lebenssituationen -, so sind Polgars Randbemerkungen scheinbar referenzlos. Wenn "man zur Mitte hinblickt [...], ist alles durchgestrichen und es bleibt dort nichts", beschreibt Robert Musil Polgars Texte. Folgerichtig siedelt Musil Polgars Feuilletons nicht in der Tradition der Talmudkommentare, sondern in einer Ästhetik der Moderne an, innerhalb derer die feuilletonistische Form selbst zum Symbol dezentrierter Existenz wird, die am Anfang des "Endes der großen Erzählungen" steht und mit der Illusion von Ganzheit und Identität bricht.

Hildegard Kernmayer verweist in ihrer Studie zu Recht darauf, dass sich die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Textsorte 'Feuilleton' mit einem Textcorpus konfrontiert sieht, dem definitorisch beizukommen sowohl die Gattungstheorie als auch die Literaturgeschichte bislang versäumt haben. Stattdessen habe sich das Bild einer Textsorte festgesetzt, das seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts "sowohl in seinen ästhetischen als auch in seinen politisch-ideologischen Implikationen die populäre Auffassung von der Nichtigkeit des 'genre mineur' festigt". Die ästhetische Abwertung des Feuilletons geschieht dabei vornehmlich durch Zuschreibungen aus außerästhetischen Diskursen, seien es kulturkonservative, die im Feuilleton nicht weniger als ein Symbol der 'Entwürdigung, Käuflichkeit, Selbstaufgabe des Geistes' zu erkennen meinen, seien es deutschnationale Diskurse, die im Feuilleton die 'französischen' Eigenschaften der Oberflächlichkeit, der Unaufrichtigkeit, der Zersetzung, des Verfalls, der Sexualität, des Radikalismus und des schöpferischen Unvermögens fokussiert sehen, oder gar antisemitische, denen das Feuilleton zum Sinnbild für die 'Verjudung' der deutschen Literatur wird. Alle diese Zuschreibungsvarianten verorten das Genre innerhalb eines negativ wahrgenommenen Diskurses der Moderne. Neu und fruchtbar an Kernmayers Ansatz ist die Einbeziehung von Alteritätskonzepten, die sich - im Diskurs der Moderne überhaupt erst entstanden - innerhalb der bürgerlichen Feuilletonistik in der Rede über die fremde Nation äußern. Mit deren Hilfe imaginiert sich die Gemeinschaft als "rassische", sprachlich und religiös homogene Entität. Diese Konzepte manifestieren sich vor allem in den Bildern vom anderen Geschlecht, in denen die bürgerliche Geschlechtsontologie fortgeschrieben wird, und sie spiegeln sich schließlich in den Darstellungen von Juden wider, die im bürgerlichen Diskurs seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als die sichtbarsten 'Anderen' figurieren. "Als 'Fremde' par excellence, denen im Prozeß der Assimilation der Selbstentwurf verweigert wird, werden gerade die Juden zum Ziel der unterschiedlichsten Zuschreibungen, fungieren sie im Prozeß bürgerlicher Identitätsstiftung als das ausgegrenzte 'Andere', vor dem sich das moderne dezentrierte Subjekt als identisch imaginieren kann."

Der von Kernmayer unternommene Versuch, die diskursiven Zusammenhänge zwischen den Komplexen 'Judentum', 'Moderne' und 'Feuilleton' aufzuzeigen, stützt sich dabei methodisch auf Erkenntnisse poststrukturalistischer Diskursanalyse. Angesichts der Tatsache, dass - wie Sander Gilman nachweist - die Vorstellung von der 'verdorbenen', 'zersetzenden' Sprechweise der Juden, deren Stigmatisierung als 'krankhaft' über Jahrhunderte hinweg nicht nur den antisemitischen Diskurs, sondern auch das Selbstbild der Juden prägte, kann auch die neuere Fragestellung nach der Existenz 'jüdischer' Schreibweise bzw. 'jüdischer' Ästhetik nicht generell vom Vorwurf der Ideologielastigkeit freigesprochen werden. Sowohl die Rede über die Gruppe der Juden als auch die Rede über die Textsorte Feuilleton, das zeigt Kernmayer deutlich, sind spezifische Diskurse der Moderne, deren Interdependenz sich in der Gemeinsamkeit der Qualitäten manifestiert, die ein modernekritischer antisemitischer Diskurs den Phänomenen zuschreibt. Neben einer sehr differenzierten Aufarbeitung der diskursiven Implikationen der Komplexe 'Judentum', 'Moderne' und 'Feuilleton' vor dem Hintergrund der Moderne-, Alteritäts- und Ästhetiktheorie ist Kernmayer bestrebt, die wechselweise Verschränkung von sozialpolitischen und literarästhetischen Diskursen an konkreten Texten des Wiener Feuilletons der Jahre 1848 bis 1903 nachzuweisen. Untersucht wird die feuilletonistische Produktion von acht Autoren (Moritz Gottlieb Saphir, Ferdinand Kürnberger, Sigmund Schlesinger, Friedrich Schlögl, Karl Landsteiner, Daniel Spitzer, Ludwig Speidel, Theodor Herzl) und einer Autorin (Betty Paoli), die ein repräsentatives Textcorpus darstellt, anhand dessen die wesentlichen Literarisierungsstrategien nachgezeichnet werden, die "die liberale Feuilletonistik zur Bestätigung der bürgerlichen Identitätskonzepte von der Aufstiegsphase bis zur beharrend-konservativen Phase des Liberalismus einsetzt".

Heinrich Heine, der in vielen kulturwissenschaftlichen Abhandlungen zu diesem Thema generell als 'Prototyp' des deutsch-jüdischen Literaten erscheint, dient neben Haacke auch dem Historiker Heinrich von Treitschke als Gallionsfigur, anhand derer die 'Verjudung' der deutschen Literatur bzw. deren Durchsetzung mit 'französischem' Gedankengut und 'französischen' Stilformen exemplifiziert werden kann. 'Epigonentum', 'künstlerische Impotenz' charakterisieren in diesem Diskurs den jüdischen Künstler schlechthin. Intellektualismus und Gefühlskälte, "Esprit", der die Oberflächlichkeit und den Mangel tiefen Empfindens kaschieren solle, wird den Texten des 'Juden' Heine angelastet. Diese 'Wunde' ist durch das vielzitierte Diktum Theodor W. Adornos von 1956 für die gesamte Wirkungsgeschichte Heinrich Heines längst zur geflügelten Signatur geworden. Bei Adorno heißt es: "Nicht erst von den Nationalsozialisten ist Heine diffamiert worden. Ja diese haben ihn beinahe zu Ehren gebracht, als sie unter die Loreley jenes berühmt gewordene 'Dichter unbekannt' setzten, das die insgeheim schillernden Verse [...] als Volkslied unerwartet sanktionierte. 'Das Buch der Lieder' hatte unbeschreibliche Wirkung getan, weit über den literarischen Umkreis hinaus. In seiner Folge ward schließlich die Lyrik hinabgezogen in die Sprache von Zeitung und Kommerz. Darum geriet Heine um 1900 bei den geistig Verantwortlichen in Verruf. Man mag das Verdikt der Georgeschule dem Nationalismus zuschreiben, das von Kraus läßt sich nicht auslöschen. Seitdem ist die Aura Heines peinlich, schuldhaft, als blutete sie."

In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, wie unterschiedlich gerade jüdische Dichter, Literaturwissenschaftler und Gelehrte die Akkulturationsbestrebungen Heines beurteilt haben. Während Max Brod eine "grenzenlose Einsamkeit", "Verlassenheit" und Isolation gegenüber dem Deutsch- wie dem Judentum wahrnahm oder Adorno das "Scheitern der jüdischen Emanzipation" als Sinnbild der Situation des Ausgeschlossenen und Heimatlosen interpretierte, meinte Hannah Arendt, dass Heine "mit Furchtlosigkeit und göttlicher Frechheit [...] schließlich auch das erreicht" habe, "worum seine Glaubensgenossen mit Furcht und mit Zittern, mit Verbergen und arrogantem Zur-Schau-Stellen, mit Schmeichelei und mit Prahlerei vergeblich sich abmühten. [...] Er ist das einzige große Beispiel geglückter Assimilation, das die ganze Geschichte der Assimilation aufzuweisen hat."

Demgegenüber hat Karl Kraus, worauf Adorno in der eben zitierten Passage andeutungsweise hinwies, in der "Fackel" gegen Heine einen über mehrere Jahre sich erstreckenden unversöhnlichen 'Strafprozess' geführt, der nunmehr in einer von Dietmar Goltschnigg edierten und vorzüglich kommentierten Ausgabe dokumentiert vorliegt. Goltschnigg gelingt es, die komplexe, an manchen Stellen schwer zu durchschauende intertextuelle Vernetzung der Kraus'schen Texte sichtbar zu machen. Darin erscheint Heine als Inbegriff der verabscheuten Moderne, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris ihren Ausgang genommen und - in typischer Diktion Karl Kraus' - ihre apokalyptische, mit einem totalen Wertezerfall verbundene Fortsetzung um die Jahrhundertwende in Wien gefunden hat. Mit seinen obsessiven, polemischen Angriffen bediente sich Kraus nicht nur antisemitischer Klischees und präfaschistischer Vokabeln, sondern projizierte gleichsam, wie Goltschnigg überzeugend nachweist, das eigene, als Belastung empfundene Judentum auf den Pariser "auslandsdeutschen Literaturjournalisten" als seinen geistesverwandten und damit umso mehr hassenswerten Rivalen und Stellvertreter, um seine eigene, zeitlebens forcierte Assimilation, seine "Entjudung", zu vollenden. Unter Rekurs auf Theodor Lessing stellt Goltschnigg die fast unvermeidliche Frage, ob "der drakonische Strafrichter mit dieser 'Erledigung' nicht selber dem von ihm vehement geleugneten 'jüdischen Selbsthaß' zum Opfer gefallen ist".

Die von Kraus verfassten Beiträge zu Heine erstrecken sich nahezu über den gesamten "Fackel"-Zeitraum, also von 1899 bis 1932, hinzu kommen noch einige Auszüge aus der 1933 entstandenen, aber erst 1952 posthum veröffentlichten "Dritten Walpurgisnacht". An keinem anderen Autor lasse sich, so Goltschnigg, das intertextuelle Bezugssystem der Wiener und zum Teil auch der europäischen Moderne so exemplarisch veranschaulichen wie an Karl Kraus, dessen "Fackel"-Texte eine "enorme, interne wie externe Vernetzungsdichte" aufwiesen und gewissermaßen ein Buch bildeten, das endlos fortgeschrieben werde. Auch und gerade die Texte zu Heine ließen sich zu einem unvollendbaren Text, "zu einem universalen Lebens- und Kunstprogramm, zum Protokoll eines fast lebenslangen Gerichtsprozesses" zusammenschließen. Während die interne Vernetzung auf der mehrfachen Verwendung von ganzen Texten und Textteilen und dem gemeinsamen Fokus der Kraus'schen Entreprise, dem Leben, Werk und Wirkung Heines beruht, wird die externe Vernetzung der Beiträge durch Bezugnahmen auf Texte früherer und zeitgenössischer Autoren sowie durch Repliken auf Artikel in österreichischen, deutschen und französischen Tageszeitungen hergestellt. Besonders die zentrale Polemik "Heine und die Folgen" bezeichnete Kraus als "organische Zusammenfassung" seiner selbst und der Zeit. In dem Zusammenhang verdient es erwähnt zu werden, dass sich in den ersten "Fackel"-Jahrgängen die Polemik häufig noch weniger gegen Heine selber oder sein Werk richtete, als gegen den sogenannten "Heineismus" um die Jahrhundertwende. Einige der meistbehandelten Probleme betreffen dabei das Verhältnis des Judentums zur Moderne, Fragen der bürgerlichen Emanzipation und Akkulturation, des Nationalismus und des Antisemitismus.

Auf diesen Antisemitismus reagierten die Juden entweder mit verzweifelten Fluchtversuchen, mit der Ablehnung und Verdrängung oder aber der forcierten religiösen, politischen und kulturellen Behauptung ihrer Herkunft. Goltschnigg verweist darauf, dass es auch innerhalb des österreichischen Judentums deshalb zu massiven Spannungen kam, wo unterschiedliche assimilierte Gruppen aufeinander trafen. Der Schtetljude erschien etwa dem akkulturierten Großstadtjuden als "Gespenst der Vorfahren", das den vermeintlich vollendeten Akkulturationsprozess zurückzudrehen drohte. Horkheimer und Adorno sprechen in diesem Kontext vom "erbarmungslosen Verbot des Rückfalls", vom Trauma des Akkulturierten, der an den Schtetljuden wahrnehme, "wofür er sich insgeheim verachtet: sein Antisemitismus ist Selbsthaß". Theodor Lessing hat in seinem aufsehenerregenden Buch "Der jüdische Selbsthaß" (1930) vor allem den Wiener Juden Karl Kraus als "das leuchtendste Beispiel" dieses sozialpsychologischen Phänomens bezeichnet: "Wohl in keiner zweiten Gestalt des gegenwärtigen Deutschland offenbart sich der geniale Selbsthaß des sittlichen Menschen in gleich unerlöster Tragik, denn hier ward eine schöne und reine Naturkraft an ein zu guter Letzt völlig fruchtloses Werk vertan, von dem nach zwei, drei Geschlechtern nichts übrigbleiben kann als ein Berg bedrucktes Papier."

Wie bereits oben angedeutet, erfreute sich der Begriff des "Intellektuellen" als Stigmatisierung akkulturationswilliger Juden besonderer Beliebtheit - so auch in der "Fackel". Hier dient er als ironische Anspielung auf das Selbstverständnis der assimilierten Juden in der Moderne, das auf der von ihnen beanspruchten Gleichsetzung von Judentum und Intelligenz beruht. Der erstmals während der Dreyfus-Affäre in Frankreich aufgetauchte Begriff des "Intellektuellen" galt den assimilierten Juden als Synonym für ihre Identität. Der Analogisierung von Intellektuellen und Juden arbeitet um die Jahrhundertwende eine semantische Schwäche im Begriff des 'Juden', des 'Jüdischen' entgegen, Termini, die ganz Unterschiedliches bezeichnen konnten, deren Konnotationen willkürlich wurden.

Thomas Sparr hat in einem Beitrag zu dem Sammelband "Jüdische Selbstwahrnehmung" darauf hingewiesen, dass Dreyfus in der Geschichte der jüdischen Selbstinterpretation seit der Jahrhundertwende zum entscheidenden Bezugspunkt wurde: "Dreyfus war das Modell, nach welchem man das Bild des modernen Juden schuf, als Fremdbild wie als Selbstbild." Die Geschichte der esoterischen Dreyfus-Rezeption, die das Exemplarische vor dem Singulären sieht, ist eine Geschichte der Selbstdeutungen von Juden in Deutschland: als tief verstecktes Modell einer Grunderfahrung bei Benjamin, als verborgene Tradition einer Kunstfigur des Paria bei Hannah Arendt. Völlig säkularisiert und weitgehend akkulturiert, fühlten sich jüdische Intellektuelle ihrer jüdischen Tradition entfremdet, die ihnen durch die rabbinischen Interpretationen ihrer sozialen, ethischen und spirituellen Relevanz entleert zu sein schien und ihren gegenwärtigen Bedürfnissen nicht mehr genügte. Besonders das jüdische Konzept des Exils als Bezugsrahmen für das Schicksal von Vertreibung, Verfolgung und Isolation wird von vielen jüdischen Autoren verwendet, um ihre doppelte Außenseiterexistenz und Marginalisierung als Juden einerseits, als avantgardistische Intellektuelle und Künstler andererseits, zu begreifen. Damit wird auch der von antisemitischer Seite immer wieder erhobene Vorwurf von der 'jüdischen Intellektualität', der von den Juden selbst als Teil ihrer negativen Typologie verinnerlicht worden war, ins Positive umgewertet.

Mit dem Essay "Um Heine" vollzieht sich dann, wie Goltschnigg treffend hervorhebt, eine Wende in Kraus' Heine-Rezeption. Von nun an steht nicht mehr der "Heineismus" im Zentrum der polemischen Attacken, sondern der Dichter selbst, sein Werk und seine Person. Dieser Essay präludiert mit Dutzenden weiterer ab 1906 unter verschiedenen Sammeltiteln publizierten Aphorismen den folgenreichsten Beitrag, den Kraus über Heine verfasst hat: "Heine und die Folgen". Goltschnigg weist nach, dass ganze Abschnitte des früheren Essays und viele der Aphorismen wörtlich wiederholt und in den neuen Texten einmontiert werden. Heine figuriert nunmehr als trickreicher, frivoler "Sprachschwindler", der die deutsche Sprache auf das der französischen eigene "Niveau der Prostitution" heruntergezerrt und so nach Deutschland die gefürchtete "Franzosenkrankheit [...] eingeschleppt" habe. Damit ist explizit der Feuilletonismus moderner Zeitungen und Journale gemeint, implizit aber auch eine Krankheit, und zwar die - nach Ansicht vieler Antisemiten - bei den Franzosen wie den Juden gleichermaßen beheimatete und dort weitverbreitete Syphilis. Völlig zu Recht betont Goltschnigg die offenkundige Paradoxie, dass Kraus mit Heines 'Feuilleton' (als paradigmatisch modernem und daher minderwertigem Genre) auch in der Form des Essays abrechnet, den dieser selbst vielfach verwendet hat. Damit verbunden rückt die Sprache bzw. die Kritik an Heines ("undeutscher" respektive jüdischer) Sprachverwendung in das Zentrum der Kraus'schen Ästhetik. Kraus vertritt, so Goltschnigg, eine "Sprachprozeßordnung", die auf der Vorstellung "einer verborgenen Sprache der Juden" beruht. Die "Sprache der Juden" erweist sich als "verborgene" nun allerdings nicht dort, wo sie Kernmayer vermutet, nämlich wo "gejüdelt" oder "gemauschelt", d. h. ein grammatikalisch, syntaktisch und stilistisch fehlerhaftes oder durch einen typischen (singenden) Tonfall verfremdetes Deutsch gesprochen wurde, sondern erst dort, wo die Juden - was nachgerade die Ängste deutschnational Denkender schürte - dank ihrer perfekten Akkulturationsbestrebungen ein makelloses Deutsch sprachen.

Bemerkenswert ist Goltschniggs Fazit, dass Kraus in seinem jahrzehntelangen Strafprozess gegen Heine "kaum neue Argumente gegen den Angeklagten" hervorgebracht habe. "Die meisten Gravamina, vor allem was den verborgenen, 'undeutschen', jüdischen Jargon, den Sprachschwindel, den sogenannten 'Feuilletonismus' als spezifisch jüdisch-moderne Kommunikationsform und die berechnende, 'geschmacklose Vermischung von Poesie und Prosa', Dichtung und Geschäft, anbelangt, lassen sich schon in der diffamierenden Heine-Rezeption des 19. Jahrhunderts von Wagner über Treitschke und Sandvoß bis Bartels nachweisen, über deren 'inferioren Antisemitismus' Kraus sich erhaben wähnte." An keiner anderen Stelle wird die suggestive Massenwirkung des demagogischen Rhetors Kraus so prägnant auf den Punkt gebracht wie in Elias Canettis Kraus-Essay (abgedruckt in "Das Gewissen der Worte"). Dort heißt es: "Das erste, was nach dem Anhören von zehn oder zwölf Vorlesungen von Karl Kraus, nach ein oder zwei Jahren Lektüre der 'Fackel' geschah, war eine allgemeine Einschrumpfung des Willens, selbst zu urteilen." "Es hat Jahre gedauert, bis ich begriff" - gesteht Canetti an anderer Stelle -, "daß es Kraus gelungen war, eine Hetzmasse aus Intellektuellen zu bilden, die sich bei jeder Lesung zusammenfand und so lange akut bestand, bis das Opfer zur Strecke gebracht war." Was von "dieser höheren Instanz einmal beschlossen war, galt als ausgemacht, es wäre einem vermessen erschienen, selber an eine Nachprüfung zu gehen, und so nahm man keinen der Autoren je in die Hand, die von Kraus verdammt worden waren", bekannte Canetti und steht damit stellvertretend für viele intellektuelle Zeitgenossen gerade auch jüdischer Provenienz.

Dietmar Goltschnigg ist es auf beeindruckende Weise gelungen, die kulturgeschichtlichen Voraussetzungen dieses 'Federkriegs' (wie anders sollte man den Kraus'schen polemos gegen Heine lesen?) und das Amalgam intertextueller Zusammenhänge aus Feuilletonismus, Modernekritik, jüdischem Selbsthass und Alteritätskonzepten offenzulegen. Dies sollte die Kraus-Forschung auch hierzulande befruchten.

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Hans Otto Horch / Charlotte Wardi (Hg.): Jüdische Selbstwahrnehmung. La prise de conscience de l'identité juïve.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1997.
292 Seiten, 70,60 EUR.
ISBN-10: 3484651199

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Hildegard Kernmayer: Judentum im Wiener Feuilleton (1848-1903). Exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1998.
326 Seiten, 73,60 EUR.
ISBN-10: 3484651245

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Dietmar Goltschnigg: Die Fackel ins wunde Herz. Kraus über Heine. Eine "Erledigung"? Texte, Analysen, Kommentar.
Passagen Verlag, Wien 2000.
496 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 3851654005

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