Psychoanalyse nach hundert Jahren Traumdeutung

Vorbemerkungen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Ende 1899 erschien Sigmund Freuds "Traumdeutung". Um den epochalen Anspruch seines Werkes zu unterstreichen, datierte der Autor es auf das Jahr 1900. Das Buch hat seinen Anspruch eingelöst. Die mit der "Traumdeutung" fundierte Psychoanalyse prägte die Diskurse und Mentalitäten des 20. Jahrhunderts wie kaum eine andere wissenschaftliche Schule dieses Jahrhunderts.
Hundert Jahre Traumdeutung waren für literaturkritik.de der Anlaß, die Psychoanalyse zum Schwerpunkt dieser Ausgabe zu machen. Sie war von Beginn an mit der Literatur und mit den Kulturwissenschaften auf vielfältige Weise verknüpft. Daß sie es immer noch ist, zeigt diese Ausgabe mit exemplarischen Beiträgen.
Die ersten befassen sich mit zum Teil erhellenden Ansätze, die Psychoanalyse zum Hilfsmittel oder auch zum Gegenstand von Kulturanalysen zu machen. Portraitiert wird jener Freud- und Lacan-Schüler, der mit psychoanalytischer Gewitztheit, erstaunlicher Produktivität und bemerkenswerter Medienpräsenz ganz heterogene Bereiche unserer Kultur untersucht: Slavoj Zizek. Kulturanalytisch sind auch die rezensierten Versuche, Psychoanalyse für die Geschichtswissenschaften fruchtbar zu machen oder die Geschichte eine Gefühls, in diesem Fall des Ekels, zu schreiben.
Unsere Vorstellungen von Normalität oder Abweichung, Gesundheit oder Krankheit sind von der Psychoanalyse stark geprägt. In den rezensierten Büchern zu diesem Thema, mit dem sich die Kulturwissenschaften seit den einschlägigen Arbeiten Michel Foucaults kontinuierlich befaßt haben, spielt Freud eine gewichtige, wenn auch keineswegs eine singuläre Rolle.
Die Bedeutung der Psychoanalyse für die Literatur und Kunst des 20. Jahrhundert ist dagegen kaum zu überschätzen. Die literarische Moderne zeigte sich an der Psychoanalyse interessiert, seit es diese gab, zuerst in Wien, spätestens seit 1910 in allen anderen deutschsprachigen Zentren des literarischen Lebens, seit den zwanziger Jahren in ganz Europa und in den USA. Es gibt kaum einen bedeutenden Autor des 20. Jahrhunderts, der sich nicht mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt hat. In den Bohemekreisen der europäischen Großstädte war es vor allem Otto Gross, der den zeitgenössischen Autoren die Psychoanalyse vermittelte, und zwar in einer kulturevolutionären Version. Es scheint gegenwärtig an diesem so genialen wie bedauernswerten Freud-Schüler, der Ende der siebziger Jahre wiederentdeckt wurde, ein neues Interesse zu erwachen.
Daß gerade auch Autorinnen an der Psychoanalyse brennend interessiert waren, zeigen einige neuere Arbeiten zu dem Thema. In ihnen geht es nicht zuletzt um Freundschaften und Liebesbeziehungen, die berühmte Analytiker mit begabten Frauen unterhielten: Freud mit Lou Andreas-Salome oder Otto Rank mit Anais Nin. Wie stark Psychoanalytiker in die Familiendesaster, die sie zu analysieren wußten, selbst involviert waren, zeigt der autobiographische Bericht Sibylle Lacans.
Psychoanalyse kann zweifellos auch witzig sein. Freud berichtete von Lachanfällen seiner Patienten während der Behandlung. Etwas anderes ist es, wenn die Psychoanalyse komisch gemacht wird. Autoritäten waren schon immer besonders beliebte Lachobjekte. Eine ziemlich komische Figur gibt der Psychoanalytiker Doktor Zuckerstätter in Uwe Sauers umwerfend witzigem Campus-Roman "Uniklinik" ab. Der Roman heißt nicht zuletzt deshalb so, weil in dem dort beschriebenen Uni-Milieu eigentlich alle krank, also psychoanalysebedürftig sind. Es mag Unis geben, an denen das nicht so ist. Doch auch an diesen empfehlen wir Sauers Roman und diese Ausgabe von literaturkritik.de.