Defizite der deutschen Philosophie

Sloterdijk, Heidegger und die Habermas-Schule

Von Silvio ViettaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silvio Vietta

Die Reaktionen auf die Elmauer Rede von Sloterdijk zeigen neben vielem andren auch die Defizite der bundesrepublikanischen Philosophie an, insbesondere der Habermas-Schule. Was fehlt? Zu beklagen ist da insbesondere das Fehlen einer Moderne-Theorie, die es ermöglichen würde, moderne Phänomene, wie die Gen-Technologie, philosophisch zu verorten. Das hängt zusammen mit einem zweiten Defizit: dem Fehlen einer wissenschaftsgeschichtlichen Aufarbeitung der naturwissenschaftlich-konstruktivistischen Ansätze der Aufklärung. Zu Descartes, Hobbes, Leibniz gibt es weder von Habermas noch von einem seiner Schüler eine nennenswerte Arbeit. Jene herrschaftsfreie Kommunikation, die Habermas als das "Projekt der Moderne" und Erbe der Aufklärung entworfen hat, war von Anfang an eine Rumpfprojektion, die, wie auch die Debatte zeigt, bei Belastung unter Kontroverse rasch zerfällt.

Das Projekt einer biologischen Neukonstruktion des Menschen war nicht erst Nietzsches Traum. Es entspringt im Umkreis einer universalen Philosophie der Frühaufklärung, die sich als "Herr und Meister der Natur" (Descartes) inthronisiert und tendenziell alles zum mathematischen Konstrukt macht: das Erkenntnisobjekt, aber auch die Subjektivität, die Ökonomie, die Gesellschaft und eben auch: den menschlichen Körper. Schon Descartes wollte ihn "von der unendlichen Anzahl von Krankheiten" sowie "von der Altersschwäche" befreien. Insofern verkennt das Einhauen auf Sloterdijks "skandalöse", "faschistoide" Rede den historischen Sachverhalt: Das Projekt einer biologischen Transformation des Menschen ist nicht das Ende der Aufklärung, sondern deren Vollendung. Warum soll auch, wo alles zum technischen Konstrukt wird, ausgerechnet das altbackene Material des menschlichen Körpers davon ausgeschlossen sein? Gegen eine gentechnische Verbesserung des Menschen kann man ungefähr so viel einwenden wie gegen den Bau einer Eisenbahn. Zu Fuß gehen wäre vielleicht weiser, aber de facto hat sich die Menschheit für Akzeleration und Lebensverlängerung - und möglichst beides in einem - entschieden.

Die angezeigten Defizite betreffen zwei weitere Punkte: die Rezeption Heideggers und des Nationalsozialismus. Das soll ja das Skandalon von Sloterdijks Rede sein: daß seine gentechnische Idee des "Menschenparks" den faschistischen Traum weiterspinnt. Wiederum fehlt der Rahmen einer Moderne-Theorie, die - absehend vom Wust der faschistischen Ideologien - die Modernität des Dritten Reiches in ihren Konzepten technischer Machbarkeit erkennt. (Was übrigens Ralf Dahrendorf in seinem Buch "Gesellschaft und Demokratie in Deutschland" noch klar gesehen hat.) Nach seiner anfänglichen Fehleinschätzung des Nationalsozialismus hat Heidegger das spätestens ab 1936 erkannt. Während des Zweiten Weltkrieges schrieb er: "Der Krieg ist zu einer Abart der Vernutzung des Seienden geworden, die im Frieden fortgesetzt wird." Und dies auch im Sinne einer gentechnischen Manipulation des Menschen: "Da der Mensch der wichtigste Rohstoff ist, darf damit gerechnet werden, daß auf Grund der heutigen chemischen Forschung eines Tages Fabriken zur künstlichen Zeugung von Menschenmaterial errichtet werden. Die Forschungen des in diesem Jahre mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt ausgezeichneten Chemikers Kuhn eröffnen bereits die Möglichkeit, die Erzeugung von männlichen und weiblichen Lebewesen je nach Bedarf zu steuern." (Die Vergabe des Goethepreises an den Chemiker Richard Kuhn fällt in das Jahr 1942. Siehe zu diesen Zussammenhängen meine Darstellung: Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik, Tübingen 1989). Die Heidegger-Rezeption der Habermas-Schule hat Heideggers weitreichende Einsichten in die technische Modernität des Dritten Reiches durch ihre eigene weltanschaulich-ideologische Fixierung weitgehend blockiert.

Daneben zeigt die Debatte noch ganz andere Schwächen: Nicht nur reagieren da einige Philosophen wie "Alarmgänse" (FAZ 24.9.99), sondern auch wie Pawlowsche Hunde: Reflexartig wird , wenn sich etwas Unheimliches naht, das die ehemals Kritische Theorie nicht mehr recht verorten kann, die Faschismuskeule geschwungen. Vor allem Reinhard Mohr war damit im SPIEGEL (No 36) rasch zur Hand. Sloterdijks Rede trage "faschistische Züge". Die Entgrenzung des Faschismusvorwurfs ist eines der schlechtesten Erbstücke der 68er Generation. Die Stigmatisierung als "faschistisch" bzw. faschistoid" soll wie ein Exorzismus austreiben, was nicht mehr begriffen wird. Mit kritischem Denken hat das nichts mehr zu tun.

Die Sloterdijk-Debatte hat möglicherweise eine ähnliche Funktion wie die Walser-Debatte: Aufbrechen eines hochmoralischen, aber steril gewordenen und in eine negative Deutschtumsideologie eingeschlossenen Diskurses. Heidegger hat, als er seinen politischen Fehler erkannte, intensive wissenschaftsgeschichtliche Studien betrieben, um jene technologische Welt, deren zerstörerisches Potential das Dritte Reich so furchtbar inszenierte, besser zu begreifen. Die Sloterdijk-Debatte zeigt: an solchen Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne könnte, müßte vielleicht sogar die deutsche Philosophie wieder ansetzen, wenn sie etwas Sinnvolles zu den Erscheinungsformen der Moderne sagen will.