Leben und Werk?

Zu einer Darstellung des Lebens und der Haupttexte Walter Benjamins

Von Markus BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nachdem die Gestalt des Ästhetikers, Philosophen und Dichters Walter Benjamin eine Rezeption erfährt, die zu devotionalienartigen Auswüchsen führt und eine Auratisierung seines Daseins mit allen Mitteln forciert, legen der Benjamin-Spezialist Willem van Reijen und der Fotograf Herman van Doorn im Suhrkamp Verlag einen Band vor, der sowohl "Chronik" als auch Darstellung von "Leben und Werk" zu sein beansprucht.

Das Buch trägt drei Titel. Zunächst einen literarisch-metaphorischen: "Aufenthalte und Passagen" - der aber auch auf Benjamins spätes Werkfragment hinweist; sodann einen verkaufsträchtigeren klassifizierenden: "Leben und Werk" - eine gerade auch von Benjamin konsequent kritisierte Verkürzung der Betrachtung von Geschichte und Produktion geistiger Erzeugnisse; und schließlich den Untertitel "Eine Chronik" - eine den vorstehenden Bezeichnungen entgegenstehende alte Gattung, die man bei diesem Unternehmen sich vielleicht am ehesten realisiert gewünscht hätte. Diesen drei Angaben entsprechen drei Ebenen der Darstellung: zum einen eine chronologische der Nennung von Benjamins Aufenthaltsorten, dann eine sich darauf vorgeblich beziehende zusammenfassende Darstellung der wichtigsten Texte und schließlich die fotografische Vergegenwärtigung dieser Orte durch aktuelle Aufnahmen von Herman van Doorn.

Angesichts der Beobachtung der unfreiwillig unsteten Lebensweise Benjamins - die durch den Band eine bestürzende Evidenz erhält, Benjamins Texte nach 1933 entstanden fast ausschließlich in engen Hotelzimmern - stellen sich die Autoren im Vorwort "eine einfache Frage: Wo war Benjamin, als er bestimmte Texte schrieb?" Eine durchaus berechtigte Frage, die auf die zahlreichen biographischen Verzweigungen und Kontakte, intellektuellen Kontexte, noch häufig unbekannt gebliebenen Anregungen und Anlässe seiner Texte führen kann. In der Neuerschließung solcher Quellen lag z. B. ein Großteil der wissenschaftlichen Bedeutung, aber auch der Faszinationskraft der Benjamin-Biographie Momme Brodersens (1990) oder auch des Marbacher Katalogs (1990). Ohne falsche Nostalgie bereichert die Publikation von Dokumenten, Fotos, Autographen etc. das Wissen um die Umstände der Entstehung von Texten. Darum ist es den Autoren aber nur am Rande zu tun. Die Chronologie ist eine grobe der Jahreszahlen, die zudem noch mit der zusammenfassenden Darstellung der in dem betreffenden Zeitraum entstandenen wichtigsten Texte Benjamins vermischt wird.

Im Falle der bildlichen Dokumentation entscheiden sich die Autoren des vorliegenden Bandes, "von den bekannten und existierenden Aufenthaltsorten und auch von den Pariser Passagen" aktuelle Aufnahmen abzudrucken: "Wir haben nur dann auf alte Fotos zurückgegriffen, wenn noch vorhandene Häuser durch Neubauten oder Bäume verdeckt waren." Dieses Verfahren isoliert die Bilder von den beiden Textebenen: Wir sehen Gebäude aus Benjamins Vergangenheit in ihrer heutigen Gegenwart, mit modernen Werbetafeln, von Autos zugeparkt, im Design der aktuellen Lebenswelt, auf deren historisch bedingte Konnotationen Benjamin doch so großen Wert legte. Diese historische Dimension fehlt den neuen Aufnahmen, sie stehen ziemlich beziehungslos zu den Kommentaren und der Zeitschiene. Was der Text eines Benjamin-Aufsatzes mit einer solchen Aufnahme, z. B. einer regennassen, mit Autos zugeparkten heutigen Straße in Paris zu tun haben könnte, ist nicht mehr unmittelbar sinnlich nachvollziehbar. Eine Ausnahme stellen in dem Band die zahlreichen aktuellen Fotos von Pariser Passagen dar, die aber weniger Benjamins Aufenthaltsorte dokumentieren als Bildmaterial zu seiner letzten großen Arbeit liefern. Allerdings bietet der Band auch eine Reihe historischer Aufnahmen, nicht zuletzt eine an den Anfang gestellte, dem Rezensenten bisher unbekannte Fotografie Benjamins auf Ibiza.

Ein wenig kohärentes Nebeneinander bieten auch die beiden Textebenen. Die Kurzdarstellungen der wichtigsten Arbeiten nehmen kaum die in der Eingangsfragestellung verborgene methodische Anregung auf. "Wir haben es als unsere erste Aufgabe gesehen, Aufenthaltsorte und Reisen möglichst genau zu dokumentieren. Kurze Dokumentare zu den wichtigsten Texten Benjamins versuchen Lebenswege und Werke in ihrer wechselseitigen Beziehung so darzustellen, daß sich daraus ein übersichtliches Bild ergibt." Dass es sich mit "Leben" und "Werk" nicht so einfach verhalten sollte, kann man von kaum jemandem überzeugender erfahren als von Benjamin. "Wechselseitig" kann ihr Nebeneinander in diesem Band kaum genannt werden, hinzu kommen einige trivial zu nennende Psychologisierungen ("Andererseits hat Benjamin von seiner Mutter offenbar nicht jene Zuwendung bekommen, die er sich gewünscht hat.") und Verkürzungen ("Mit der emotionalen, sozialen und intellektuellen Unruhe korrespondierte die geographische"). Die häufigen Zitate aus dem durch die jetzt abgeschlossen vorliegende große Briefausgabe reichlich zur Verfügung stehenden epistolographischen Material sollen offensichtlich den Kitt liefern zu einer Komposition, die die naiv anmutende, kaum begründete Konzeption nicht realisieren kann. Dabei wären es gerade die Briefe gewesen, die einer "Chronik" reichlich Anknüpfungspunkte hätten bereitstellen können, von deren Zusammenstellung dann ein innovatives Licht auf die Texte hätte fallen können. Die für Kenner des Werkes in einer "Chronik" enthaltenen Möglichkeiten finden sich nicht erfüllt, es werden z. B. keine über die seit längerem bekannten intellektuellen Gewährspersonen (Adorno, Brecht, Scholem, Lieb, Rang etc.) hinausgehenden Bekanntschaften und Kontexte genannt.

Es behauptet sich der Eindruck, dass es sich um eine bis auf die genannten Ausnahmen gut geschriebene knappe Einführung in die Haupttexte Benjamins handelt, hilfreich für diejenigen, die sich einen schnellen und hinsichtlich der Aufenthaltsorte Benjamins auch detaillierten Überblick über "Leben und Werk" verschaffen wollen. Somit gesellt sich der heterogene Band zu der bereits auf dem Markt vorhandenen Bildmonographie des Rowohlt Verlages und der Einführung aus der Junius-Reihe.

Titelbild

Willem van Reijen / Herman van Doorn: Aufenthalte und Passagen. Leben und Werk Walter Benjamins. Eine Chronik.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
272 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518583026

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch