Geschichte für unsere Gegenwart

Jung-Kyo Ahns Roman über den Koreakrieg

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Frühherbst 1950 scheint die Ordnung des koreanischen Dorfes Kum-san noch stabil: In einem abgelegenen Bergtal gelegen, blieb es jahrhundertelang von Kriegen verschont. Die Familie Hwang kontrolliert den Ort seit Generationen, geachtet wegen ihres bescheidenen, relativen Wohlstands und ihrer Bildung. Das Familienoberhaupt gibt den durch Unglücke Verarmten Tagelohnarbeiten, stiftet Ehen und überwacht die Einhaltung der strengen Sittenregeln.

Jung-Kyo Ahns Roman "Der silberne Hengst" setzt aus der Perspektive des alten Hwang ein: Zunächst beunruhigt nimmt der Patriarch Rauchwolken über den Bergen wahr; nun wird auch die jenseits gelegene Kreisstadt bombardiert. Nur mühsam kann Hwang seine Ahnung zurückdrängen, dass der moderne Koreakrieg nicht mit früheren Konflikten vergleichbar ist und keinen Rückzugsraum mehr lässt. Erst die Wahrnehmung der Natur, die scheinbar unwandelbare bäuerliche Arbeit bestärken seine Zuversicht, alles werde so bleiben, wie es immer war.

Am Ende ist die Hoffnung widerlegt. Die nordkoreanische Volksarmee, nach Anfangserfolgen im Koreakrieg schnell vor UN-Interventionstruppen unter US-amerikanischer Führung zurückweichend, zieht auf ihrer Flucht zwar nur eilig durch das Dorf - die vorgeblichen Befreier, die ihnen folgen, stellen sich jedoch auch als Vergewaltiger heraus; die verwitwete Mutter Ol-le, nach dem frühen Tod ihres Mannes auf Hilfsarbeiten für die Familie Hwang angewiesen, wird ihr Opfer. Schon hier stellt sich heraus, dass die alte Moral dem neuen Konflikt nicht mehr angemessen ist. Aus Sicht des alten Hwang wurde Ol-le gezwungen. Sie ist also nicht verantwortlich für das, was ihr angetan wurde; dennoch bleibt sie für ihn unrein. Er meidet deshalb den Kontakt mit ihr, was sie auch unter den anderen Dorfbewohnern isoliert und zudem ihre wirtschaftliche Existenz zerstört.

Den Fronttruppen folgt ein amerikanisches Etappenlager und mit ihm organisierte Prostitution. "Texas Town" entsteht, eine eilig errichtete Hüttenstadt zur Befriedigung sexueller Bedürfnisse der Soldaten. Die Kinder des Dorfes werden mit Süßigkeiten korrumpiert. Ol-le entkommt ihrer Isolation nur durch Unterstützung von außen, durch die Prostituierte Jong-nyo, die den amerikanischen Truppenlagern gefolgt ist und nicht ganz uneigennützig, doch zuletzt solidarisch eine ortsansässige Freundin sucht. Auch Ol-le wird Hure der Amerikaner, leidet anders als die professionellere Jong-nyo dauerhaft darunter und leistet, ohne es zu wollen, ihren Beitrag dazu, die tradierte Macht zu zerstören.

Zum ersten Mal nämlich stößt der alte Hwang auf Widerstand. Hatte er es zuvor mit Bauernvolk zu tun, das unwissend war, zudem ökonomisch und sozial abhängig, so trifft er nun auf Gegnerinnen, die auf sein Wohlwollen nicht angewiesen sind. Ol-le hat ebenfalls nichts mehr zu verlieren und muss schon deshalb nicht mehr demjenigen gehorchen, der ihren sozialen Tod verschuldet hat. Hwangs Autorität gründet darauf, dass sie naturgegeben schien. Sobald er auf Gegenwehr stößt, wird sie als Anmaßung deutlich.

Zuletzt bleibt nichts von dieser Position. Wirtschaftlich, so stellt sich heraus, ist sie unterminiert, denn der konservative, gebildete Großbauer ist schon lange beim technisch innovativen Müller verschuldet und muss ihm seine Felder überschreiben. Moralisch ist das alte Sittengesetz, das Hwang vertritt, den neuen Konflikten nicht adäquat - er verurteilt das Opfer, ohne noch die Macht zu haben, sein Urteil durchzusetzen.

"Der Krieg nähert sich dem Dorf", heißt der erste Teil des Romans, "Ein fliehendes Dorf" ist der vierte und letzte betitelt, in dem die Dorfbewohner vor dem Gegenstoß der Nordkoreaner und der sie unterstützenden chinesischen Truppen fliehen. Im Flüchtlingszug, der sich durch eine winterliche Kriegslandschaft voll von Trümmern und Leichen bewegt, haben sich überschaubare soziale Zusammenhänge völlig aufgelöst. Nun herrscht Anonymität und regiert offen das individuelle Interesse, eigenes Überleben zu sichern.

Die größte Stärke des Romans ist, dass Ahn kaum je historisch wertet. Zwar wird seine Sympathie für die Opfer, besonders für Ol-le und ihre Familie, deutlich; daraus folgt indessen keine Parteinahme für die eine oder andere gesellschaftliche Ordnung. Die westlichen Interventionstruppen kommen kaum als positive Helden in Frage. Wenn die US-Soldaten im Roman nicht gerade die Berglandschaft in eine Müllhalde verwandeln, aus der sich die Bevölkerung essbare Reste heraussuchen kann, scheinen sie ausschließlich damit beschäftigt, sexuelle Dienstleistungen der einheimischen Frauen in Anspruch zu nehmen.

Die Vertreter der Tradition sind nicht besser: Während sie noch ängstlich ihre eigenen Frauen vor den fremden Soldaten verstecken, unterstellen die Männer des Dorfes Ol-le bereits, aus Geilheit gehandelt zu haben. Besonders drastisch wird die Doppelmoral unter den Kindern sichtbar, die ja ohnehin ihre Machtkämpfe weniger geschickt als Erwachsene zu bemänteln pflegen: Ol-les Sohn Man-sik wird aus der Bande ausgeschlossen, in der er zuvor spielte. Die moralische Abscheu, die die Kinder von ihren Eltern übernehmen, hindert sie freilich nicht daran, nachts heimlich zu den Bordellen zu schleichen und den Prostituierten bei der Arbeit zuzuschauen.

Der Krieg erscheint deshalb nur als Katalysator für den Zerfall einer Ordnung, die alleine schon ausreichend Zerstörungspotential in sich trug. Deshalb schreibt Ahn, der als Kind den Koreakrieg miterlebt und als Kriegsberichterstatter in Vietnam gearbeitet hat, auch nur bedingt ein Anti-Kriegsbuch, wenngleich er die Leiden, die Kriege erzeugen, nicht mildert. Die Flucht am Ende des Buchs wird von Man-sik auch als Befreiung erlebt; eine soziale Welt geht unter, die es nicht wert war, Bestand zu haben.

"Der silberne Hengst", der dem Buch seinen Titel gibt, verweist auf eine koreanische Legende aus der Zeit der Mongoleneinfälle: In einer Höhle soll dem Volk ein mächtiger General geboren worden sein, der schon am ersten Lebenstag voller Stärke auf besagtem Hengst den Feinden entgegenritt und sie zerschmetterte. Der griffige deutsche Titel rettet, der desillusionierenden Handlung entgegen, etwas von solchem Optimismus. Das koreanische Original dagegen heißt wörtlich übersetzt: "Der silberne Hengst kommt nicht". Hier ist dem Leser von Beginn an deutlich, dass im Beharren auf Traditionen keine Rettung liegt.

Inwieweit die Übersetzung sonst zuverlässig ist, lässt sich im Einzelnen schwer beurteilen. Miran Kwak und Jürgen Kreft verfügen über eine gut lesbare, meist präzise Sprache. Manche beschreibenden Episoden Ahns wirken ein wenig geschwätzig, wie mittelmäßiges 19. Jahrhundert; in welchem genauen räumlichen Verhältnisse die Flüsse und Häusergruppen im Kum-san liegen, will man so genau nicht wissen und muss es auch nicht, weil die Handlung ohne dies verständlich bleibt. Ahns Stärken liegen in der Handlungskonstruktion und in der Figurengestaltung.

Die Ambivalenzen im Übergang von der Tradition zur Moderne, vom abgeschlossenen Bergdorf zum offenen Konfliktraum, die Ahn aufzuzeigen weiß, gelten nicht nur für den Einzelfall. Es handelt sich um Widersprüche einer Epoche, die noch lange nicht abgeschlossen und heute im Begriff ist, in eine neue, blutigere Phase einzutreten. Die Historie, die den Stoff des Romans bildet, ist Stoff noch unserer Gegenwart und Zukunft.

Titelbild

Jong-Kyo Ahn: Der silberne Hengst. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen und mit einem Nachwort von Miran Kwak und Jürgen Kreft.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2001.
269 Seiten, 15,40 EUR.
ISBN-10: 3934872107

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