Zwischen den Waffen die Musen

Döblins Berliner Feuilletons sind ironische Sittengemälde

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur Facharzt für Nervenkrankheiten, das reichte Alfred Döblin nicht. Um seine Einkünfte aus der medizinischen Praxis aufzubessern, schrieb er zwischen 1921 und 1924 auch Berichte aus der Berliner Theaterwelt. Ein auf CD veröffentlichter Mitschnitt einer Matinée aus dem Deutschen Theater beweist, dass seine damals für das Prager Tagblatt verfassten Kritiken heute zu Unrecht vergessen sind.

"Die Theater in Berlin leben nach der Art der Eisbären. Sie halten Winterschlaf, führen dabei ihre Existenz fort mit dem Fett, das sie früher angesetzt haben." Obwohl dieser ironische Vergleich heutigen Zuständen nicht unähnlich ist, scheint die Bühnenszene der 20er Jahre in unseren Tagen allenfalls für Theaterwissenschaftler von Interesse. Doch weit gefehlt. Denn Döblin beschäftigt sich nicht nur mit den jeweiligen Stücken und ihrer Inszenierung, sondern untersucht mit Vorliebe auch ihre Wirkung auf das Publikum. So erfahren wir, wie viel Applaus es gab, wie viele Plätze noch frei waren und welche Garderobe das Bildungsbürgertum zur Schau trug. Mehr noch - neben der Theaterlandschaft nehmen Döblins Zeitglossen auch die Wechselbeziehungen zwischen dem Individuum und der urbanen Lebenswelt stets aufs Neue ins Visier.

Als Flaneur betritt der Autor Kaffeehäuser und Konsumtempel, Gemüseläden und Herrenausstatter, beschreibt den Prunk der Geschäftswelt am Kudamm, erkundet Strandbäder und Lunaparks. Auf seinen Wanderungen durch die Komplexität des Stadtlebens begegnet er nicht nur dem schnoddrigen Berliner Lokalkolorit, sondern richtet sein Augenmerk allerorten auf den unverwechselbaren Lifestyle der frühen 20er Jahre. Schon damals wollte Berlin alles andere als Provinz sein. Die sich in diesen tagebuchartigen Aufzeichnungen spiegelnde Wirklichkeit lässt sich daher auch als Fingerübung zum facettenreichen Chaos lesen, das im großen Tatsachenroman vom Franz Biberkopf herrscht.

Wer nun eine Hommage an die glorreichen 20er Jahre erwartet, wird von Döblin zweifellos enttäuscht. Sein feines Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen und Gepflogenheiten lässt eine Verklärung des kulturellen Lebens nicht zu. So erkennt er bereits 1923 ein unübersehbares Anschwellen der nationalen Begeisterung und eine gefährliche Ausbreitung des Antisemitismus. Die jüdische Kultur, der Döblin selbst entstammt, ist im Berlin der frühen 20er Jahre zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt. Nur ein Jahrzehnt später zwingen ihn die Nazis zur Emigration.

Dem Schauspieler Dieter Mann ist es zu danken, dass Döblins Feuilletons heute auch außerhalb literaturwissenschaftlicher Expertenzirkel die verdiente Aufmerksamkeit zuteil wird. Im Deutschen Theater Berlin, dem er von 1984 bis 1991 als Intendant vorstand, gab Mann die auf dieser CD konservierte Solo-Matinée zu Ehren Döblins. Und wer zwar Volksbühne, Schillertheater und Max Reinhardt kennt, aber mit vielen weiteren Institutionen und Persönlichkeiten der Berliner Theaterszene von damals nicht vertraut ist, findet im Beiheft zahlreiche nützliche Erläuterungen.

Titelbild

Alfred Döblin: Da stehste staunend vis-á-vis. Berliner Feuilletons und Zeitglossen Interpret: Dieter Mann.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2001.
1 CD, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3491910641

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