Rachels Trauer und Blade Runner´s Turingtest

Daniel L. Schacter seziert das Gedächtnis - und setzt allerhand Geschichten und Bilder dazu

Von Joachim LandkammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Landkammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Daniel L. Schacter, Professor für Psychologie in Harvard, steht nicht im Verdacht, mit seinem 1996 erschienenen Buch "Searching for Memory: The Brain, the Mind, and the Past" nur schnell auf den hochkonjunkturellen Trend der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung aufgesprungen zu sein, beschäftigt er sich doch seit 1982, seit seinem Buch "Stranger behind the engram: Theories of Memory and the psychology of science", als professioneller empirischer Psychologe und Neurowissenschaftler mit diesem Thema (das schlägt sich u.a. in der Auflistung seiner Publikationen nieder, die in dem - allerdings sehr umfangreichen, fast 60 Seiten umfassenden - Literaturverzeichnis allein drei ganze Seiten einnehmen).

Damit lässt sich bereits vermuten, was einen solchen Autor zu einem eher populärwissenschaftlichen Überblickswerk wie dem vorliegenden veranlasst und befähigt: Es mag ihn sein Wille motivieren, nach all dem analytisch-empirischen Forschungskleinklein wieder einmal allgemein verständlich, weltzugewandt, ausgreifend und mit allerhand narrativem und illustratorischem Beiwerk zu schreiben, was in der streng wissenschaftlichen Forschungsliteratur zwar verpönt ist, aber im flott-informativen Bestseller-Sachbuch gerade im angelsächsischen Raum eine respektable Tradition hat. Und es legitimiert ihn, mehr als andere, die anderweitig offensichtlich unter Beweis gestellte Sorgfalt, eine Garantie für das wissenschaftliche Up-to-date und eine Absicherung gegen das bei populärwissenschaftlichen Büchern nahe liegende Risiko des Abdriftens in Seichtheiten und Banalitäten.

Warum aber legt man dieses architektonisch ausgeklügelte Textbauwerk - jedes der zehn Kapitel beginnt mit einer real-life-story als "opener" und endet mit Beispielen von "Gedächtniskunst" -, das sich über fast 500 Seiten erstreckt (150 zusätzliche Seiten bringen die Anmerkungen, die erwähnte hervorragende Bibliographie und ein überaus nützliches Register) und durchaus den Anspruch anmelden kann, das "Standardwerk" zum state of the art der heutigen Gedächtnisforschung darzustellen (vergleiche dazu die auf der homepage des Autors zusammengestellten Auszeichnungen und Ausschnitte aus Rezensionen), doch irgendwie unbefriedigt und mehr-wissens-, besser-verstehens- und weiter-denkens-hungrig zur Seite?

Zum einen mag es daran liegen, dass das Thema der Erinnerung, überraschenderweise, angesichts des aktuellen "hipes", kaum Überraschungen bietet (die vom Klappentext versprochenen "bahnbrechenden neuen Erkenntnisse" sind dem Rezensenten beim besten Willen nicht aufgefallen). Natürlich ist es von einer nicht zu unterschätzenden Nützlichkeit, verschiedene Formen von Gedächtnisoperationen (semantisches, prozedurales und episodisches Gedächtnis) zu unterscheiden, über die kontextuellen Gründe von Ursachen des Gelingens und Scheiterns von Erinnerungsvorgängen zu reflektieren, die Erkenntnisse der Neurologie und der (bildgestützten) Hirnforschung miteinzubeziehen etc.: aber das eigentlich Erstaunliche bleibt vor allem der terminologische und experimentelle Aufwand, den Psychologen betreiben, um im Grunde recht wenig erstaunliche Thesen belegen zu können. Oder hätte jemand daran gezweifelt, dass die emotionale Intensität einer Erinnerung abnimmt, wenn man sich an eine gewisse Episode als außenstehender Beobachter statt als Teilnehmer erinnert? Dass der eine Erinnerung auslösende "Hinweisreiz" passen muss, dass "eine Erinnerung eine emergente Eigenschaft des Abrufreizes und des Engramms ist", so dass die Erinnerung jeweils erst kontextuell konstruiert wird, dass bestimmte Gedächtnisleistungen eine Konsolidierungsphase voraussetzen, weil die Erinnerung Zeit braucht, "um sich im Gehirn richtig anzusiedeln" - all dies scheint so nahe liegend, dass man kaum das beruhigende Gefühl des Wissenschaftlers nachvollziehen kann, nun zu wissen, all dies auch experimentell überprüft und nachgewiesen zu haben.

Interessant, wenn auch ebenfalls wenig neu, ist es auch, über die alltägliche Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses von den Rändern des Außeralltäglich-Pathologischen her aufzuklären: Verschiedene Erscheinungsarten der Amnesie, Dissoziation und Verdrängung lassen sich gewissen traumatischen Erlebnissen und deren psychischen und physischen Folgen kausal zuordnen (sehr "beliebt" bei Neurologen sind da natürlich eindeutig lokalisierbare Gehirnläsionen). Wiederum stellt aber die funktionelle Lokalisierbarkeit (dass die Amygdala im Inneren des Schläfenlappens beispielsweise für Emotionen und Stresshormone "zuständig" ist) nur ein Element bloßen Faktenwissens dar. In Kant'schen Begriffen betreibt Schacter daher größtenteils eine Anthropologie "in physiologischer" und nicht, wie Kants Alternative lautet, in "pragmatischer Hinsicht": Denn "wer den Naturursachen nachgrübelt, worauf z. B. das Erinnerungsvermögen beruhen möge, kann über die im Gehirn zurückbleibenden Spuren von Eindrücken, welche die erlittenen Empfindungen hinterlassen, hin und her [...] vernünfteln; muß aber dabei gestehen: daß er in diesem Spiel seiner Vorstellungen bloßer Zuschauer sei und die Natur machen lassen muß, indem er die Gehirnnerven und Fasern nicht kennt, noch sich auf die Handhabung derselben zu seiner Absicht versteht, mithin alles theoretische Vernünfteln hierüber reiner Verlust ist" (aus der Vorrede zu Kants "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht"). Nun, die in Frage kommenden "Gehirnnerven und Fasern" kennen wir heute, nicht zuletzt durch Schacters Forschungen und durch sein vorliegendes Buch, schon ein bisschen besser, so dass wir auch bei der "Handhabung zu unserer Absicht" inzwischen etwas bessere Karten haben und Kants lapidares Verdikt des "reinen Verlusts" überpointiert scheint. Trotzdem bleibt mit Kant festzustellen, dass der "pragmatische" Ertrag des Buches, will sagen, dass man die "Wahrnehmungen über das, was dem Gedächtnis hinderlich oder beförderlich befunden worden, dazu nutzt, um es zu erweitern oder gewandt zu machen", nicht allzu hoch ist.

Gewisse Handlungsanweisungen, wenn auch vor allem negativer und skeptischer Art, lassen sich allerdings, wenn auch nur implizit, dem Text entnehmen. Schacters immer wiederkehrendes Leitmotiv der "anfälligen Macht" (fragile power) des Gedächtnisses läuft im Ganzen fast auf ein generelles Misstrauensvotum gegenüber den menschlichen Erinnerungen hinaus; zumindest ist die deutliche Warnung vor deren Überschätzung nicht zu übersehen. Dass gerade intensive und traumatische Erinnerungen keine Garantie für Wahrheitstreue bieten müssen, oder dass die unbewussten Vorprägungen durch die strukturelle Wahrnehmung des visuellen und auditiven "perzeptiven Repräsentationssystems" bestimmen, was wie erinnert wird, und zu "mentalen Kontaminationen" und Vorurteilen führen, all das wird z. B. auch denen moralischen Auftrieb und wissenschaftlichen Rückhalt geben, die immer schon vor einem allzu großen vertrauensseligen Umgang mit so genannten "Zeitzeugen" gewarnt haben.

Dass es Schacter aber trotzdem mehr auf das "theoretische Vernünfteln" und auf das ankommt, was Kant das bloße "Zuschauer-sein" beim "Spiel seiner Vorstellungen" genannt hatte, zeigt sich an der von ihm betriebenen "Ästhetisierung" des Themas, was nun gerade wieder die Originalität seines Ansatzes ausmacht. Das Buch illustriert seine Thesen und Themen mit Beispielen zeitgenössischer Kunst, die aus der Sammlung von "gedächtnisbezogenen Kunstwerken" des Autors und seiner Frau stammen. Man wird sich darüber streiten können, wie aussagekräftig die durchweg stark verkleinerten Schwarz-weiß-Reproduktionen dieser Werke sind; auch eine Feststellung des immanenten künstlerischen Werts dieser zeitgenössischen Gedächtniskunstobjekte, unabhängig von ihrer exemplarischen und didaktischen Instrumentalisierung, ist so eigentlich gar nicht möglich. Jedenfalls will sich zunächst einmal vor vielen Bildern das Gefühl des Unbeteiligtseins und der Langeweile einstellen, das man vom Betrachten der Photoalben völlig fremder Personen kennt; da helfen auch die etwas naiv-emphatisch werbenden Bildunterschriften Schacters nichts: "Wir ahnen, daß es sich um eine faszinierende Geschichte handeln muß".

Auch an weiteren Einzelpunkten ließe sich Kritik üben. Nur zwei davon seien genannt: Zu oberflächlich scheint mir das Phänomen des Déjà-vus behandelt, das Schacter en passant mit der Auslösung einer "impliziten" (= unbewussten) Erinnerung an eine ähnliche Begebenheit der Vergangenheit erklärt. Das Verblüffende am Déjà-vu ist ja nicht, dass ein aktuelles Geschehen verschwommen an etwas bereits Vorgefallenes erinnert, sondern dass es sich um eine genau identisch empfundene "Wiederholung" einer Episode handelt; zu dieser Empfindung führt die Erinnerung offensichtlich dadurch, dass sie einerseits zu viel beisteuert (und so die Schein-Identität erst durch hinzuerfundene Elemente schafft), andererseits zu wenig (sie liefert die genauen Umstände des vorangegangenen Erlebnisses nicht mit, die eine Differenzierung ermöglichen würde). Des Weiteren scheint mir eine Episode aus dem bei allen Gedächtnisforschern hoch im Kurs stehenden Film "Blade Runner" nicht richtig interpretiert: Laut Schacter hat die Replikantin Rachel den "Turingtest für Erinnerungserfahrung bestanden", denn der Titelheld Deckard "kann nicht zwischen der subjektiven Reaktion dieser Replikantin auf ihre Erinnerungen und der eines Menschen unterscheiden, da Rachel zeigt, daß sie subjektiv die uneingeschränkte Macht des Gedächtnisses erlebt". Das ist so nicht ganz exakt: denn was Rachel zu einem menschenähnlichen Wesen, zu einer Art "Über-Replikantin" macht, ist ihre emotionale Reaktion auf die im Laufe der Filmhandlung gewonnene Einsicht, dass die ihr "werkseitig eingebauten" Erinnerungen gerade nicht zu ihr gehören. Was sie "menschlich" macht (und was in der Tat mit einer reinen "Maschinenleistung" logisch nicht zu erklären ist), ist ihre Fähigkeit zur Trauer über die ihr fehlenden Erinnerungen. Nur weil sie zu empfinden in der Lage ist, dass sie nur mit einer künstlichen Vergangenheit ausgestattet ist, will der Blade Runner ihr zu einer eigenen Vergangenheit verhelfen, indem er ihr eine eigene, selbst gelebte Zukunft ermöglicht. Ist Rachel insofern nicht gerade eine sehr "menschliche" Figur, die zeigt, dass Zukunftsfähigkeit und -willen aus der Unzufriedenheit mit der Vergangenheit herrührt - also gerade nicht: "Zukunft braucht Herkunft", sondern: "nur Herkunftslosigkeit braucht Zukunft"?

Titelbild

Daniel L. Schacter: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Hainer Kober.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
640 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3498063243

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