Kannibalismus als Selbstbefreiung

Ein Sonderband zur Diskursanalyse versammelt Überblicke und gewährt Einblicke

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das mit Diskursanalyse bezeichnete heterogene Feld methodischer Applikation in verschiedensten Wissenschaftsbereichen hat immer noch Konjunktur, davon zeugt unter anderem ein neuer Band der Argument-Reihe, hervorgegangen aus einer Graduiertenkonferenz an der Universität Erlangen-Nürnberg. Mit einem Oberbegriff betitelte Bücher müssen sich daran messen lassen, ob sie das Geschäft der Ein- und Weiterführung miteinander verbinden, also auf dem schmalen Grat zwischen Verallgemeinerung und spezialisierter Weiterführung wandern können. Im vorliegenden Fall scheint dies insgesamt gelungen zu sein.

Die Schlagseite zur Geisteswissenschaft ist vertretbar, auf sie hätte jedoch im Vorwort deutlicher hingewiesen werden können; als komplementäre Lektüre lässt sich der von Heinz-Ulrich Nennen herausgegebene Band "Diskurs. Begriff und Realisierung" (2000) heranziehen. Das Spektrum der Beiträge des Argument-Bandes, eingeleitet von einem Überblicksartikel Johannes Angermüllers, reicht von gesellschaftstheoretischen Überlegungen bis zu Anschlüssen in Philosophie, Historiographie, Literaturwissenschaft und Filmphilologie.

Die interessanteren Beiträge sind hier die spezielleren. Zunächst gilt es, sich durch Angermüllers Einleitung zu kämpfen, die einen kundigen Eindruck macht, aber an Verständlichkeit zu wünschen übrig lässt. Merkwürdig sind Formulierungen wie die, dass es der "proto-dekonstruktivistische Gestus" sei, "wonach dem Text ein Bedeutungsüberschuss eigen ist, der das 'eigentlich' Gemeinte notwendig überschreitet"; dies soll "an das Modell der lacanianischen Psychoanalyse" anknüpfen. Dabei gibt es viele Ansätze, beispielsweise in der Literaturwissenschaft, die schon vor Lacan und auch später ohne dessen Hilfe den Bezugsrahmen von Autor, Text und Leser problematisiert und erhellend über den "Bedeutungsüberschuss" von Texten reflektiert haben. Der Textsorte "Einleitung" werden andere Formulierungen gerechter, etwa folgende Erkenntnis: "Auch Wissenschaft ist ein Produkt, das innerhalb einer diskursiven Formation, in einem spezifisch institutionalisierten und hierarchisierten Wissenschaftsystems [sic!] mit einer spezifischen Tradition und Vergangenheit hervorgebracht wird."

Es folgt der Versuch Thomas Höhnes, den verwandtschaftlichen Beziehungen von Diskursanalyse und Konstruktivismus nachzugehen. "Sinn wird in Diskursen selegiert und reproduziert, wodurch Vereindeutigungen, Festschreibungen und soziale Relevanzen hergestellt werden", ein griffiger Satz neben vielen anderen, die sofort einleuchten. Olaf Kramer leistet Vergleichbares für die Beziehungen zur alt-ehrwürdigen Rhetorik, während Anil K. Jain versucht, den Gegensatz von Diskursanalyse und Hermeneutik mit dem Begriff der Metapher zu überbrücken. Andere Beiträge bemühen sich darum, Erkenntnisse der Philosophie fruchtbar zu machen oder Beispiele aus der Literatur zu wählen, an denen sich die Mechanismen der Auseinandersetzung von Text und Kontext exemplifizieren lassen. Ein Aufsatz zu Foucault darf nicht fehlen, obwohl die Schriften des Übervaters der Diskursanalyse in fast jedem Beitrag die Folie bilden, vor der argumentiert wird.

Besonders gelungen scheint mir Laurenz Volkmanns spannende Relektüre der Romantrilogie von Thomas Harris, in der jener Hannibal Lecter auftritt, den Anthony Hopkins so bravourös verkörperte; "Das Schweigen der Lämmer" und "Hannibal" sind Literaturverfilmungen. Volkmann stellt fest, mit welchen Traditionen Harris' postmoderne Texte spielen, und er verortet die Texte mit philologischer Präzision in ihrem Entstehungs- und Rezeptionskontext. Dabei kommt eine kulturkritische Deutung heraus, in der "Gewaltexzesse als reinigender Akt der Selbstbefreiung" gelesen werden, eine Befreiung, die aber "weniger als Aufruf zur Veränderung der bestehenden Ungerechtigkeiten denn als kurzfristige Fluchtmöglichkeiten aus der Tristesse des Alltagslebens" verstanden werden muss. Hier ließe sich einhaken und fragen, ob die Wirkung nicht stark von dem Reflexionsniveau des Lesers oder Zuschauers abhängt und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind.

Als gehaltvolles Bonbon präsentieren die Herausgeber zum Schluss einen Beitrag des US-amerikanischen Schwergewichts Frederic Jameson mit dem provokativen Titel "Das Ende der Zeitlichkeit". Virtuos spielt der Amerikaner mit Theoremen, dem Leser und sich selbst, wenn er schließlich feststellt, dass er eigentlich "das genaue Gegenteil" von dem gezeigt habe, was er zeigen wollte, nämlich dass "diese kulturellen Symptome" (wie "Sex-and-Violence-Pornographie") "nicht in den Bereich der Ethik fallen". Am "Ende der Zeitlichkeit" steht die Erkenntnis: "Es ist das System, das eine bestimmte Zeitlichkeit hervorbringt - eine Zeitlichkeit, die sich dann wieder in den untersuchten kulturellen Formen und Symptomen ausdrückt." Ein schöner Satz und eine weitere Bestätigung dafür, dass es diesem Band zweifellos gelungen ist, sich unserer Zeit wissenschaftstheoretisch anzunähern.

Titelbild

Johannes Angermüller / Katharina Bunzmann / Martin Nonnhoff (Hg.): Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen. Sonderband.
Argument Verlag, Hamburg 2001.
258 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3886192865

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch