Berlins duftige Zartheit

Dieter E. Zimmer fotografiert "Nabokovs Berlin"

Von Isabelle GuntermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Isabelle Guntermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich meine, dass eben hierin der Sinn schöpferischer Literatur besteht: [...] in den Dingen unserer Umwelt jene duftige Zartheit aufzuspüren, die erst unsere Nachkommen erkennen und zu schätzen wissen werden, in jenen fernen Tagen, wenn jede Bagatelle unseres platten Alltagslebens von vornherein erlesen und festlich wirken wird". Vladimir Nabokov, Russe, Boxtrainer, Schmetterlingssammler, Frauenfreund und Schöpfer der "Lolita", notiert diese Sätze in seinem Berliner Exil. Nabokov weiß zu dieser Zeit schon, was Verlust ist. Als er in Berlin ankommt, hat die Revolution seine Kinderwelt längst dem russischen Erdboden gleichgemacht. Und nur wenig später, nach seiner Flucht aus Deutschland, wird auch das alte Berlin zerstört. Daher sein Impuls, angesichts der großen Katastrophen seiner Zeit die kleinen Dinge durch ihre lyrische Beschwörung zu retten. Nabokov baut sich ein poetisches Berlin-Museum. Wie absichtslos flaniert er durch den Stadtraum, geht "auf dem Asphalt botanisieren" (Walter Benjamin). Und unter seinem naiv-ironischen Staunen erstehen die "Wunder des Alltagslebens": das behäbige Brandenburger Tor, breithüftige Omnibusse, mandarinenfarbene Stoßzähne eines Automobils, eine alte Blumenfrau mit einem gewaltigen Wollbusen, ein unterwürfiger Schuhputzer, und "sehr tief, sehr fern und sehr langsam schwebt über allem ein Luftschiff".

Nabokov lebt lange in Berlin, von 1922 bis 1937. In Berlin wird sein Vater ermordet; in Berlin heiratet er; in Berlin wird Nabokovs einziges Kind, Dmitrij, geboren; in Berlin verhaftet die Gestapo seinen jüngeren Bruder Sergej. Nabokov kommt nicht freiwillig nach Berlin, und ebenso wenig wird er freiwillig diese Stadt wieder verlassen. Vielmehr bildet Berlin eine Zwischenstation auf seiner Flucht, die ihn, wie viele seiner Landsleute, erst vom bolschewistischen Russland nach Deutschland, dann vom Nazi-Deutschland nach Amerika verschlägt.

1899 in St. Petersburg geboren, erlebt Nabokov im vorrevolutionären Russland eine "vollkommene Kindheit". Seine Kinder-Welt ist opulent, großzügig, weitherzig, inspirierend. Der Vater ist Hofjunker mit adeliger Abstammung, der sich am Petersburger Hof trotz seiner anglophil-demokratischen Neigung als prominenter Jurist einen Namen macht. Nabokov ist ein verwöhntes Kind. 50 Dienstboten stehen seiner Familie zur Verfügung. Früh lernt er von Gouvernanten Englisch und Französisch. Daneben bekommt er Unterricht im Tanzen und Reiten, Boxen und Tennisspielen - das übliche Erziehungsprogramm für privilegierte Söhne. Die väterliche Bibliothek umfasst 10.000 Bände inklusive Privatsekretärin: hier lernt Nabokov lesen. Bereits mit fünfzehn Jahren soll er die gesammelten Werke von Tolstoi, Shakespeare und Flaubert in der jeweiligen Originalsprache gelesen haben.

"Jener abgeschmackte Deus ex machina, die russische Revolution" beendet den kindlichen Traum von einer gelebten Vollkommenheit. Als 1917 die Oktoberrevolution ausbricht, muss die Familie Nabokov fliehen, zunächst auf die Krim, dann, nach dem Einmarsch der Roten Armee, über Konstantinopel nach England. Während die Söhne Vladimir und Sergej in London studieren, übersiedelt der Rest der Familie 1920 nach Berlin, wo der Vater mit einem früheren Parteifreund, Joseph Hessen, die erfolgreiche Berliner Emigrantenzeitschrift "Rul'" (Ruder) gründet.

Nabokovs letztendliche Ankunft in Berlin, er ist 23 Jahre alt, steht unter düsteren Vorzeichen. Am 28. März 1922 wird sein Vater in der Berliner Philharmonie von monarchistischen Attentätern ermordet. Die beiden Täter werden noch vor Ort festgenommen. Sie sind den deutschen Behörden nicht unbekannt - Mitglieder einer rechtsextremen Monarchistenorganisation, die in Kontakt mit Nationalsozialisten steht. Einer der beiden, Sergej Taborickij, macht Anfang der 30er Jahre nach seiner Entlassung aus der Haft bei der Berliner Gestapo Karriere, wo ihm Nabokov noch einmal, am Ende seiner Berliner Zeit, begegnen wird.

Nabokov zieht zur Mutter nach Deutschland. Berlin ist ihm nicht unbekannt, er kennt die Stadt schon seit seiner Kindheit. Von kurzen Zwischenaufenthalten des Nordexpress auf seinem Weg von Russland an die Riviera. Von Besuchen bei einem amerikanischen Orthodontisten, der Zähne zieht und den Kiefer mit Zwirn zusammenschnürt und dessen Straßenname - "In den Zelten 18 a" - dem Kind "auf trochäischen Tanzfüßen" entgegentänzelt. Von Grubers berühmtem Schmetterlingsladen an der Passage "Unter den Linden", Nabokovs "kampferhaltigem Paradies", in dem er zum Trost für die dicke Backe Grüne Zipferfalter oder Weißlinge bewundern darf. Von Rollschuhbahnen, auf denen er die weiblichen Formen für sich entdeckt, deren intensive Betrachtung jedes Mal eine "rätselhafte Beschwerde" hervorruft - "eine von vielen absurden Kombinationen der Natur, mein Junge", so erklärt es ihm der Vater, hinter der deutschen Zeitung versteckt.

Berlin ist zur Zeit von Nabokovs Ankunft längst zu einem zweiten "Moskau an der Spree" mutiert. Die Hauptstadt der Weimarer Republik entwickelt sich seit Anfang der 20er Jahre zum ersten Zentrum der russischen Emigranten. Die antibolschewistische wie revolutionär gestimmte Intelligencija sowie monarchistische Aristokraten hoffen auf ein baldiges Ende der Revolution. Sie versprechen sich vom nahen, aber sicheren Berlin aus eine schnelle Rückkehr in die Heimat. Namhafte Schriftsteller, wie Boris Pasternak, Maksim Gorkij, Aleksej Remizov, Andrej Belyj, Aleksej Tolstoj und Viktor Šklovskij hängen zwischen 1921 und 1923 in der Berliner Warteschleife. Innerhalb kürzester Zeit entwickelt sich in Berlin eine dichte russische Kulturlandschaft, bestehend aus Geschäften, Kaffeehäusern, wie das berühmte Café Leon am Nollendorfplatz, literarischen Zirkeln und Verlagen mit, wie Nabokov beklagt, "labil" und "ein wenig illegal" wirkenden Namen: Orion, Kosmos oder Logos. 1922 und 1923 werden in Berlin mehr Bücher in russischer Sprache herausgebracht als in Moskau oder Petrograd.

Nabokov hat Heimweh. So pubertierend-poetisch seine ersten Eindrücke von der "zarten Duftigkeit" Berlins sind - als Exilant bleibt Nabokov in Berlin immer ein Fremdkörper: "Das russische Berlin der Zwanziger Jahre", so schreibt er in einem Nachruf auf Joseph Hessen im Jahre 1942, "war ein einziges möbliertes Zimmer, das von einer groben und stinkenden Deutschen... vermietet wurde".

Da Nabokov gezwungen ist, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, gibt er Englisch- und Französisch-Unterricht, verfasst Kreuzworträtsel und komponiert Schachprobleme für russische Exilzeitschriften. In den Berliner Filmstudios der UFA arbeitet er als Komparse - dass er dabei nach Darstellung seines Sohnes Dmitrij unter anderem auch in "Doktor Mabuse" von Fritz Lang als Statist mitgewirkt hat, gehört wohl eher zur Legendenbildung um den Dichter.

Um seine Familie weiter finanziell unterstützen zu können, gibt Nabokov Tennisstunden. Er trainiert Boxer im Ring und lässt hin und wieder seine Fäuste auch in Kneipen spüren. Nebenher frönt Nabokov jener "edlen Kunst", die für ihn "immer von der Aura eines beispiellosen Glanzes umgeben" war: Fußball. Viele Jahre lang spielt er als Torwart in einer russischen Mannschaft in Berlin, für ihn eine delphische Aufgabe und Möglichkeit, dem banalen Alltag für Minuten zu entfliehen: "Ich war weniger Hüter eines Fußballtores als Hüter eines Geheimnisses. Während ich mich mit verschränkten Armen an den linken Torpfosten lehnte, dachte ich an mich wie an ein sagenhaftes exotisches Wesen, das... in einer Sprache, die niemand verstand, Verse über ein entlegenes Land dichtete, die niemand kannte."

In seinen Berliner Jahren entwickelt sich Nabokovs dichterisches Genie. Hier entsteht sein gesamtes Werk in russischer Sprache. Neben Gedichten schreibt Nabokov insgesamt sieben Romane, darunter "Mašenka" (1926), "König Dame Bube" (1928) - die Initialen der russischen Version, "Korol', Dama, Valet", spielen auf das Berliner Kaufhaus KaDeWe an - "Lužins Verteidigung" (1930) und, teilweise noch, "Die Gabe" (1937/38). Berlin erscheint in diesen Texten als magische Kulisse, hinter deren transparenter Fassade das alte, für Nabokov verlorene Russland wieder aufscheint: "Das verlorene Paradies seiner Kindheit gewann Nabokov im schöpferischen Akt selbst, ... wo das Knirschen von Kies, ein durchs Laub fallender Sonnenstrahl oder eine kindliche Erkältung wichtiger ist als alle großen Ideen." (Viktor Erofeev)

1937 begegnet Nabokov dem Mörder seines Vaters wieder. Nabokov ist seit 1925 verheiratet mit Vera Slomina, Tochter einer begüterten Familie aus St. Petersburg, die stolz genug ist, aus ihrer jüdischen Herkunft keinen Hehl zu machen - auch nach 1933 nicht. Als Nabokov herausfindet, dass in dem Amt der "Russischen Vertrauensstelle" für die Ausstellung der überlebenswichtigen "Ariernachweise" ausgerechnet der vorzeitig aus der Haft entlassene Taborickij zuständig ist, begreift er, dass Vera und er Berlin verlassen müssen.

So weit die Fakten über die Berliner Zeit Nabokovs, die man in den mittlerweile zahlreichen Biografien über den Weltdichter in immer neuen Variationen nachlesen kann. Warum nun schon wieder, kurz nach dem Erscheinen von Thomas Urbans umfangreicher Abhandlung "Vladimir Nabokov - Blaue Abende in Berlin" (1999), ein Buch über dieses Thema erscheint, diesmal verfasst von dem jahrelangen ZEIT-Redakteur, großen Nabokov-Kenner und Herausgeber seiner Schriften Dieter E. Zimmer? Weil es ein ganz anderes, wunderbar zartes Buch ist.

Zu Beginn seiner Einleitung diskutiert Zimmer den von ihm gewählten Titel: "Nabokovs Berlin?... Wirklich 'Nabokovs Berlin'? Fand er Berlin denn nicht unausstehlich? ... Doch das gab es ...: Nabokovs Berlin." Dass es Nabokovs Berlin gibt, das Berlin der 20er und 30er Jahre, kann Zimmer dem Leser überzeugend vorführen. Sein Buch geht weit über eine akribische Spurensuche nach dem Leben des genialen Dichters in der deutschen Hauptstadt hinaus. Denn Zimmer lässt, und das beweist seine Souveränität als Interpret, den Dichter vornehmlich selbst reden. Der Charme des Buches, seine atmosphärische Raffinesse, besteht gerade darin, dass Zimmer angenehm stumm bleibt und seinen eigenen Text hinter der Sprachgewalt des Dichters immer wieder zurückstellt. Und was dann durchscheint durch Nabokovs Worte, ist erstaunlich: denn bei all der stiefmütterlichen Behandlung seines unfreiwilligen Exils ist Nabokov heimlich verliebt in die "zarte Duftigkeit" dieser Stadt.

Zu den schönsten Texten des Zimmer-Buches, die Nabokovs amour fou zu Berlin verdeutlichen, gehört sein "Stadtführer durch Berlin" ("Putevoditel' po Berlinu") aus dem Jahre 1930, eine Nabokov'sche Leseanweisung für die poetische Topographie der Stadt, die von "Röhren, Straßenbahnen und anderen hochwichtigen Dingen" erzählt. Der erste der Texte, die der skurrile Stadtführer versammelt, behandelt das Ereignis von auf die Straße gelegten Abflussrohren, den "eisernen Eingeweiden der Stadt", auf die jemand mit dem Finger "Otto" geschrieben hat - "mir schien", so erklärt unser russischer Berlinkenner, "dieser Name mit seinen beiden O's... passe wunderbar zu der stillen Schneeschicht auf jener Röhre mit ihren beiden Öffnungen und ihrem verschwiegenen Tunnel". Im Kapitel "Straßenbahnen" erfährt der Reisende Sehenswertes über die Hände von Schaffnern, die "nicht schlaff und schweißig sind", sondern "so rau, dass einen eine Art moralisches Unbehagen überkommt". Sodann wird der Blick des Berlin-Touristen auf Bäckerjungen gelenkt, die "etwas Engelhaftes" besitzen, und er soll die "chromgelben Tierkörper mit rosa Flecken und Arabesken" bewundern, die im "roten Laden des Schlachters" ausliegen. Jede Stadt, so belehrt Nabokov den Berlin-Touristen zuletzt, hat sein "Eden" und dieses "Eden" ist in Berlin der Zoo, der "an den feierlichen und zarten Anfang des alten Testaments" gemahnt. Man sollte, so der Stadtführer, den Zoo vor allem im Winter besuchen. Besonders sehenswert sei das Haus der Amphibien, Insekten und Fische: "Und versäumen Sie ja nicht, bei der Fütterung der Riesenschildkröten zuzusehen."

Der Autor Zimmer äußert sich nicht so sehr über das Faktenwissen, das am Ende des Buches endlich einmal mit verschiedenen Nabokov-Legenden aufräumt, sondern vielmehr durch die von ihm gesammelten Berliner Fotografien, mit deren Bildersprache er sein Verstehen der Nabokov'schen Texte ungleich eindrücklicher beweist, als es alle Worte vermögen. Das Sammeln dieser Bilddokumente, so erzählt es Zimmer auf seiner Dichterlesung in Berlin, habe ihn Jahre gekostet. Die Mühe hat sich gelohnt. Sogar eine Fotografie zur Fütterung von Riesenschildkröten aus den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende hat er gefunden.

Die nostalgische Geste, mit der Nabokov seine allzu flüchtige und brüchige Gegenwart für die Nachwelt zu konservieren sucht, kann Zimmer in seinem Buch verlängern. Die Lektüre dieses Kleinods lässt für den Leser eine alte, fragil-heile Welt wieder auferstehen: Man möchte sich in einen Pelz hüllen, eine Perlenkette um den weiß gepuderten Hals legen und auf Schnürstiefeln zum alten verschneiten Kurfürstendamm hinausschlendern...

Titelbild

Dieter E. Zimmer: Nabokovs Berlin.
Nicolai Verlag, München 2001.
156 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 387584095X

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