Ein Lebensabschnitt, der überwunden werden muss

Zur Neuausgabe einer deutschen Übersetzung von Murgers "Scènes de la vie de bohème"

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Urszene der Bohème, das Bild einer ungeheizten, halbdunklen Mansarde, in der ein wohlgenährter Operntenor die Hand einer nicht weniger üppigen Sängerin mit lyrischem Schmelz zu erwärmen sucht: "Che gelida manina" ("Wie eiskalt ist dies Händchen"), verdanken wir Puccinis Oper. Wie kein anderes Werk hat sie die Vorstellung von der Bohème geprägt. Diese Vorstellung ist wenig realistisch und nicht ursprünglich, sondern aus zweiter, ja dritter Hand. Das Libretto der Oper aus dem Jahr 1896 ist die Bearbeitung des Dramas "La vie de bohème" (1849) von Henry Murger und Théodore Barrière. Dieses Drama wiederum ist die Bühnenadaption von Murgers Prosaskizzen "Scènes de la vie de bohème", die von 1845 bis 1849 als Fortsetzungen in einer Pariser Zeitschrift erschienen waren, bevor sie 1851 als Buch herauskamen. Puccinis beliebteste Oper entfernt sich weit von ihrer Vorlage und ist doch das wirkungsmächtigste Rezeptionszeugnis eines Romans, der auch für sich genommen, ohne die Unterstützung durch die Oper, die literaturgeschichtlich und kunstsoziologisch folgenreichste Bohème-Darstellung bietet. Die Entstehungsgeschichte erklärt, was der Titel annonciert: Die "Scènes de la vie de bohème" sind ein schwach strukturiertes Werk, weniger Roman als Episodenfolge mit deutlichen Handlungssprüngen und Inkonsequenzen in der Charakterzeichnung. Die Episoden kreisen um den Freundschaftsbund von vier jungen Männern - Komponist, Maler, Philosoph und Dichter - im Pariser Quartier latin der 1840er Jahre; es geht um ihre Armut und um ihre Liebe zu einigen Grisetten, nicht aber - und das mag überraschen - um ihre Kunst oder anderweitige geistige Bestrebungen. Was davon mitgeteilt wird, ist geringfügig und lässt weder auf ernsthaftes Bemühen noch großes Talent schließen.

Die Marginalisierung dessen, was eine Bohèmeexistenz üblicherweise legitimiert, macht diese zum Selbstzweck. Nicht die Kunst, sondern der Lebensstil macht in der Bohème den Künstler. Für den später von der Bohème-Kritik konstruierten Gegensatz von unproduktivem Bohémien und produktivem Künstler hat Murger selbst bereits den Grund gelegt.

Sonst entspricht der Roman allen Klischees, die mit der Bohème assoziiert werden: Der Hauptschauplatz ist das einschlägig bekannte Viertel einer Metropole; die Freunde sind jung, geistreich, exzentrisch und lebenslustig; in erotischen Dingen herrscht - gemessen an der gängigen Moral - Libertinage. Auf ein Charakteristikum kommt es dem Erzähler besonders an: Seine Protagonisten sind arm. Das unterscheidet die Elendsbohème von der Bohème dorée, die sich auf Grund ihrer finanziellen Möglichkeiten anders inszenieren konnte - man denke an den Typ des Dandy. Das Bemühen, der drückenden Bedürftigkeit zumindest kurzfristig zu entkommen, ist das handlungsauslösende Moment für fast alle Episoden. Der Bohémien führt einen ununterbrochenen Krieg mit dem Kleinbürger, der durch dreiste und skurrile Einfälle als Hauswirt um die Miete, als Gastwirt um die Zeche, als Schneider um den Lohn gebracht wird; und natürlich fehlt auch nicht der wohlhabende Verwandte, dem Geld entlockt werden muss. Geldmangel bestimmt auch die Liebesverhältnisse. Abgesehen davon, dass Beständigkeit ohnehin keine in der Bohème praktizierte Tugend ist, bleiben die Grisetten hauptsächlich deswegen nicht treu, weil sie sich von Zeit zu Zeit in dem Luxus, mit dem sie von adeligen oder großbürgerlichen Liebhabern verwöhnt werden, von der Armseligkeit erholen müssen, zu der sie die Liebe zu ihren Künstlerfreunden nötigt. Wenn einmal Geld da ist, so interessiert den Erzähler weniger, woher es kommt, das bleibt oft vage und unplausibel, als vielmehr die Maßlosigkeit, mit der es verschwendet wird. Geht man davon aus, dass jede Bohème sich nicht zuletzt durch die provokative Ablehnung bürgerlicher Werte definiert, dann sind die Werte, die Murgers Bohème am entschiedensten verneint, Gelderwerb, Sparsamkeit und Besitz. Insofern spiegelt sie die Epoche des Bürgerkönigtums wider, in der eine Bourgeoisie den Ton angab, die der Devise "Enrichissez-vous" allzu bereitwillig folgte.

Aufgrund der literaturgeschichtlichen und kunstsoziologischen Bedeutung, die der Roman erlangt hat, gehört er zur Weltliteratur; doch an literarästhetischen Maßstäben gemessen ist er kein Meisterwerk, eher amüsante Unterhaltungsliteratur. Das hat sein Ansehen geschmälert und mag dazu geführt haben, dass eine deutsche Übersetzung im Buchhandel nicht mehr erhältlich war. Der Steidl Verlag, der diese Lücke nun schließt, hat es leider an Sorgfalt fehlen lassen. Beginnen wir mit Kleinigkeiten: Murger schrieb seinen Vornamen Henry, nicht Henri. Die Angabe, das Werk sei "1847-49 in Fortsetzungen in einer Zeitschrift" erschienen, ist fehlerhaft und zu dürftig. Bereits im März 1845 begann die Fortsetzungsreihe in einer Zeitschrift mit dem Titel "Le Corsaire-Satan", einem satirischen Blatt, was verständlich macht, dass die Charaktere und Geschehnisse karikaturistisch überzeichnet sind. Der Übersetzung fehlt ein Nachwort, das den Autor vorstellt und sein Werk literaturgeschichtlich und soziologisch situiert. Ungeachtet aller Zurückhaltung gegenüber dem ,Biographismus' ist die Information nicht überflüssig, dass der Autor in der Bohème gelebt und der Roman wie so manch andere Bohème-Darstellung - etwa die Werke der Franziska zu Reventlow - teilweise den Charakter eines Schlüsselromans hat. Murger selbst hat für die Gestalt des Dichters Rodolphe Modell gestanden. Die Herkunft der Bohème aus der französischen Romantik hätte wenigstens skizziert werden können. Einige Textstellen bleiben dunkel, weil dem heutigen Leser die Detailkenntnisse über das damalige Paris und sein intellektuelles Klima fehlen. Das gilt nicht nur für den deutschen Leser; auch der französische Leser muss offenbar informiert werden, denn schon längst existieren mehrere französische Ausgaben mit Erläuterungen. Offenbar hat der Verlag die Kosten gescheut, diese Vorarbeiten mit Hilfe eines Romanisten für die deutsche Ausgabe dienlich zu machen.

Die "Scènes de la vie de bohème" sind mehr als ein halbes Dutzend Mal ins Deutsche übersetzt worden; ungenannt bleiben die Gründe, aus denen sich der Verlag für eine 1923 erstmals erschienene Übersetzung entschieden hat, von der keineswegs ausgemacht ist, dass es sich um die beste handelt. Unentschuldbar ist, dass dem Leser stillschweigend ein wichtiger Teil des Werkes vorenthalten wird - Murgers Vorwort. Diese für die Buchausgabe verfasste Vorrede, auf welche die Forschungsliteratur über die Bohème ständig Bezug nimmt, ist u. a deswegen aufschlussreich, weil sie im Unterschied zur meist humoristischen und zuweilen sentimentalen fiktionalen Darstellung einen realistischen Standpunkt einnimmt, der es nicht erlaubt, die Schattenseite der Bohème zu verharmlosen. Sie schließt mit den Worten: "Es ist ein reizendes Leben und ein entsetzliches Leben, das seine Sieger und seine Märtyrer hat, und dem sich nur weihen sollte, wer von Anbeginn an entschlossen ist, sich dem ehernen Gesetz ,vae victis' reuelos zu unterwerfen" (zitiert nach der 1967 bei Reclam erschienenen Übersetzung von Ernst Sander). Murgers Vorwort lässt keinen Zweifel daran, dass die Bohème ein Lebensabschnitt ist, der überwunden werden muss. Dem entspricht die ironische Distanzierung am Schluss des Romans: Ein Jahr nach dem Ende des Bohème-Lebens treffen sich der Maler Marcel, der inzwischen zwei Bilder erfolgreich im ,Salon' ausgestellt und gut verkauft hat, und der Dichter Rodolphe, mittlerweile Verfasser eines viel beachteten Buchs, und Letzterer macht den nostalgischen Vorschlag, in einem schlechten Restaurant zu dinieren, mit dem sie in den Zeiten ihrer Armut hatten vorlieb nehmen müssen. ",Wahrhaftig, nein', versetzte Marcel. 'Ich bin zwar bereit, die Vergangenheit zu betrachten, aber nur hinter einer Flasche guten Weins und in einem bequemen Sessel. Was willst du, ich bin verdorben. Ich liebe nur noch das Vorzügliche.'"

Titelbild

Henri Murger: Bohème. Szenen aus dem Pariser Leben.
Übersetzt aus dem Französischen von Inge Linden.
Steidl Verlag, Göttingen 2001.
330 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 388243774X

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