Was hielten sie von Thomas Mann?

Eine materialsatte Studie trägt zusammen, was über den Dichter zu Lebzeiten in der Zeitung stand

Von Melanie OttenbreitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Ottenbreit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 23. Juni 1949, im Goethejahr also, war in der "Zeit" zu lesen, "Thomas Mann sei Schriftsteller, aber eben kein Dichter. Im übrigen liebe er die Deutschen nicht sehr, weder die ,von gestern noch die von heute', obgleich ,er doch eigentlich ein echter Deutscher ist'." Zeitlebens war den Deutschen Thomas Mann nicht ganz geheuer, besonders als politische Figur. Manche schalten ihn einen unpolitischen Künstler, andere einen "Brunnenvergifter", einen Verräter Deutschlands in der Welt. Das ambivalente Verhältnis in der politischen Rezeption des Dichters seit Erscheinen seiner Novelle "Der kleine Herr Friedemann" (1898) bis zu seinem Tod im August 1955 hat Thomas Goll in seiner Studie "Die Deutschen und Thomas Mann" untersucht.

Anhand von Zeitungsberichten, größtenteils Rezensionen der Werke in der Tagespresse, untersucht Goll die politische Rezeption Thomas Manns. Aus den Besprechungen der "Betrachtungen eines Unpolitischen" etwa leitet der Autor, dessen Arbeit als Dissertation an der Universität Würzburg entstanden ist, ab, wie sich die Milieus in Deutschland, das liberale, sozialistische, konservative, völkische und christlich geprägte, zu Thomas Mann stellten. Goll hat dazu Texte unter anderem aus der "Frankfurter Zeitung", den "Münchener Neuesten Nachrichten", der "Stuttgarter Zeitung", dem "Berliner Tageblatt", der "Vossischen Zeitung", dem "Völkischen Beobachter" und dem Hausorgan des Fischer Verlags, "Die Neue Rundschau", zusammengetragen. Dem Einwand, Literaturkritiken beruhten auf ästhetischen Urteilen, nicht primär auf politischen, hält er entgegen, gerade bei Thomas Mann sei erkennbar, dass "ein Schriftsteller, der politisch Aufmerksamkeit erregt hat, nicht nur nach literarischen Kriterien beurteilt wird, sondern auch nach politischen - und das selbst bei ,unpolitischen' Werken".

Verwirrung stiftet der Titel der Forschungsarbeit. "Die Deutschen und Thomas Mann" suggeriert, in Anspielung auf Kurt Sontheimers Standardwerk "Thomas Mann und die Deutschen" aus dem Jahre 1961, das Verhältnis der Deutschen zu einem politisch umstrittenen Dichter zu beleuchten. Eigentlich befasst es sich aber mit der Beziehung der deutschen Presse zu Thomas Mann, die das Bild des Dichters in der Öffentlichkeit mitgeprägt hat. Ob aber deren Auffassung mit dem Urteil "der Deutschen" in eins fällt? Goll jedenfalls hält das Urteil der Journalisten für repräsentativ. Wer die "meinungsführenden Medien bezüglich eines Themas" auswerte, könne damit rechnen, "daß er einen Einblick in die politische Kultur eines Landes bekommt, denn die Berichterstattung über ein Ereignis und die Kommentierung sind Ergebnis der politischen Sozialisation der Redakteure, in ihnen spiegelt sich also die politische Kultur." Rezensenten seien, bezüglich der "politischen Bewertung eines Autors", dem Normalleser ähnlich, so dass hier "mit weniger Unterschieden in der Beurteilung zwischen ,Berufs- und ,Standardlesern' zu rechnen ist als im Bereich der literarischen Wertung." Zweifel sind hier erlaubt.

Streng chronologisch ist die Studie gegliedert. Ein Kapitel über Thomas Manns Verhältnis zur Politik, belegt mit Briefen und Selbstzeugnissen, steht der Materialauswertung voran. Über die antithetischen "Betrachtungen", die von den großen liberalen Zeitungen konsequent nicht besprochen worden sind, arbeitet sie sich zum Vernunftrepublikaner Thomas Mann vor. Dieser bekennt sich zu Weimar. Im amerikanischen Exil gesteht er später, in den BBC-Rundfunkansprachen an die "Deutschen Hörer", auch sein "Leiden an Deutschland" und an Hitler, "der ihm die Deutschen entzogen hatte". Golls Auswertung der Rezensionen ist hier oft Fleißarbeit: schematisch reiht der Verfasser Zitat an Zitat, stellt Stimmen für und gegen die Werke sowie abwägende Urteile dar. Eines ausführlichen Kommentars enthält er sich zumeist. Die Studie ist über weite Strecken eher Nachschlagewerk denn Analyse. Goll schließt so eine Lücke und legt erstmals einen vollständigen Überblick über die Werkrezeption in der zeitgenössischen deutschen Presse vor.

Erhellend sind die Passagen, in denen der Autor Reaktionen auf den Nobelpreis Thomas Manns, die Goethefeiern von 1932 und 1949 sowie den Tod des Dichters beschreibt. Während die liberale "Vossische Zeitung" erwartungsgemäß den Nobelpreis 1929 bejubelte, schrieb der "Völkische Beobachter", die Wahl sei deshalb auf Thomas Mann gefallen, weil in Stockholm "der literarische Einfluß der Juden groß" sei. Der Nachruf des "Münchner Merkur" von 1955 brachte auf den Punkt, was den Konservativen über den Tod des Dichters hinaus unverzeihlich blieb: dass er "den Nationalsozialismus haßte und das politische Rußland mitsamt der Ostzone tolerierte".

Das Fazit der Studie, "bei der Auseinandersetzung mit den literarischen Werken des Dichters spielten politische Motive eine Rolle", umso mehr, je eindeutiger eine Zeitung einer politischen Richtung zuzuordnen ist, überrascht nicht. Zumal der Autor selbst feststellt, dass die Tagespresse damals "mehrheitlich eine politische Richtungspresse" war. Verraten die Rezensionen der Mann'schen Werke nicht mehr über die politische Presse jener Zeit als über das tatsächliche Verhältnis "der Deutschen" zu Thomas Mann?

Titelbild

Thomas Goll: Die Deutschen und Thomas Mann. Die Rezeption des Dichters in Abhängigkeit von der Politischen Kultur Deutschlands 1898-1955.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2000.
476 Seiten, 65,40 EUR.
ISBN-10: 3789068497

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