Bohème-Leben in Kreuzberg

Sven Regeners Roman "Herr Lehmann"

Von Bettina GrundmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bettina Grundmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1989: Berlin Kreuzberg. Herr Lehmann lebt ruhig und mit seinem Leben zufrieden in einer Eineinhalbzimmerwohnung in Kreuzberg. Die größte Abwechslung in seinem Leben als Kellner besteht darin, vor und nach Dienstschluss von einer Kneipe in die nächste zu wanken und mit einer unnachahmlichen Trägheit seinen Problemen aus dem Weg zu gehen. Er hat nie wirklich versucht, den Ansprüchen seiner Eltern, seiner Vermieter, Nachbarn und Frauen gerecht zu werden. Er hat sie einfach ignoriert.

Mit einem Blick für die tragische Komik des Lebens stolpert Herr Lehmann ebenso von Situation zu Situation wie von Bier zu Bier und beweist immer wieder, wie schwer es ist, einfach nur ein ambitionsloser Bierzapfer zu sein. Doch dann wird Herr Lehmann mit noch nie da gewesenen Situationen konfrontiert: Er muss einen kampflustigen Hund überlisten, um den Lausitzer Platz zu überqueren, sein ruhiges Dasein wird durch einen unerwarteten Besuch seiner Eltern aus der Provinz bedroht, und er trifft auf eine Frau, die anders ist als alle anderen Frauen, die er vor ihr kennen gelernt hat. Die fast größte Überwindung für ihn stellt eine Reise an den Kurfürstendamm und der Versuch einer Grenzüberschreitung gen Osten dar. Doch die eigentliche Bedrohung für sein Leben bedeutet sein dreißigster Geburtstag, der vor der Tür steht und sein eingefahrenes Leben durcheinander zu bringen droht.

Mit dreißig wird alles anders, zumindest empfindet Herr Lehmann das so. Alle Menschen in seiner Umgebung fragen ihn, was er denn nun mit seinem Leben anzufangen gedenke und was seine Ziele seien. Ziele? Herr Lehmann hat sich immer bemüht, solch komplizierten Fragen aus dem Wege zu gehen und nun soll er, nur weil er dreißig wird, eine Antwort darauf haben. Für ihn ein unlösbares Problem.

Was sollte daran nicht in Ordnung sein zu kellnern? Immerhin ist er kein gewöhnlicher Kellner, sondern einer aus Leidenschaft. Nun gut, er ist Kellner in einer Stadt voller Künstler, aber muss er deswegen nun auch ein Künstler sein oder werden? Herr Lehmann ist mit dem zufrieden, was er hat und was er ist. Für ihn ist es so viel mehr als eine Zwischenlösung. Es ist sein Leben.

Als ganz normaler Kreuzberger, der seine Gewohnheiten liebt, sitzt er Abend für Abend in seinen Stammkneipen, trinkt seine Biere und beobachtet die Trinkgewohnheiten der anderen. Ins Bett geht Herr Lehmann, wenn seine Mutter aufsteht, und als draußen die Mauer fällt, bestellt er sich erst mal in Ruhe ein Bier. Zufällig ist dieser Tag auch sein dreißigster Geburtstag und diese schicksalhafte Kombination verändert ihn nachhaltig...

Sven Regener hat mit seinem Erstlingswerk einen Roman für "Kreuzberger Nächte"-Kenner geschrieben. Sein Einfühlungsvermögen lässt erahnen, dass er über sein eigenes Kreuzberger Lebensgefühl schreibt. Dabei wurde Regener 1961 in Bremen geboren. Als Sänger, Texter und Mitbegründer der Band "Element of Crime" spiegelt sich in seinen Liedtexten wie auch in seinem Buch eine zärtlich rotzige Nonchalance wider, die man einfach lieben muss.

Mit seinem Buch will Sven Regener ebenso wie mit seinem Album "Damals hinterm Mond" ein Zeichen setzen, das an das zeitlose Kreuzberg der Vorwendezeit erinnern soll, das heute so weit weg erscheint.

Durch seine Liebe zum Detail ist der Roman empfehlenswert besonders für die Jahrgänge 1959-1969 und für Kreuzberger sowieso.

Kreuzberger, sind sie wirklich anders? Unterscheidet sich ihr Lebensstil wirklich von dem der anderen? Wer bisher dachte, dass dem nicht so ist, der wird durch dieses Buch eines Besseren belehrt.

Titelbild

Sven Regener: Herr Lehmann. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
300 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3821807059

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