Mehr als Modell und Muse

Faszinierend beschreibt Bärbel Reetz das extreme Leben der Emmy Ball-Hennings

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kolleginnen vom Strich nennen sie "die Fledermaus". Else Lasker-Schüler schimpft - glühend vor Eifersucht - über "das kleine geile Nähmädchen". Die meisten ihrer Männer nennen sie "Kind". Sie selbst schreibt einmal scherzhaft von sich als "Emmy Erdball".

Von der Welt allerdings sah Emmy Ball-Hennings, die 1885 in Flensburg als Emma Maria Cordsen geboren wurde und 1948 in der Schweiz starb, sehr wenig: von Ungarn nur Budapest, von Italien den Norden und Rom, sehr viel immerhin von der Schweiz, wo sie, mit vielen Unterbrechungen, Jahrzehnte wohnte. In der internationalen Literaturwelt der Klassischen Moderne dagegen war sie zuhause, war leichtes Mädchen, Modell, Muse, bis sie schließlich selbst zu schreiben begann und das Kabarett für sich entdeckte. Die Namen ihrer Freunde und Bekannten bilden ein "Who is who" der Avantgarde im frühen 20. Jahrhundert: Hardekopf, Heym, van Hoddis, Hesse, Becher, Klabund, Pfemfert, Werfel, Huelsenbeck, Tzara, Arp und natürlich Ball Hugo, mit dem sie eine unzerbrechliche, doch leidensreiche Liebe verband. Ohne Emmy Ball-Hennings hätte nicht nur der Dadaismus des "Cabaret Voltaire" in Zürich anders ausgesehen.

Wer ihr Leben beschreiben will, das in immer neuen dramatischen Wendungen verlief, wagt viel: es droht die Gefahr einer reinen Apologie genauso wie die einer Hugo-Ball-Biografie, in der auch seine Frau vorkommt; unangemessen wäre auch eine neutrale, nur sachliche Faktenreihung bei einem Schicksal, das den Leser unmöglich kalt lassen kann. Keiner der Gefahren verfällt Bärbel Reetz in ihrem Buch "Emmy Ball-Hennings. Leben im Vielleicht." Von Anfang an lässt sie keinen Zweifel daran, wie angerührt sie von dieser Frau ist, wie schwer es ist, ihr Leben zu fassen, dass philologische Genauigkeit unverzichtbar und die volle Wahrheit nicht zu haben ist. Genau dieses Bewusstsein macht einen unschätzbaren Vorteil des Buches aus, das dazu wegen seiner ebenso beweglichen wie unaufdringlich-genauen Sprache Bewunderung verdient.

So wenig Reetz sich scheut, als Autorin präsent zu sein, "ich" zu schreiben, wenn sie beispielsweise auf den Spuren von Ball-Hennings in Flensburg recherchiert, so wenig drängt sie sich auf oder in den Vordergrund. Mit Geläufigkeit und Leichtigkeit führt sie den Leser durch ein erstaunliches Dasein, das Drogenabstürze wie Dichter-Höhenflüge kennt, die Kabarett-Existenz wie das Klosterleben, und so oft "die beiden schrecklichen Hu": das Hungern und das Huren. Reetz gelingt es, ohne Peinlichkeit und falsche Zurückhaltung immer den rechten Ton zu treffen, ob es um Prostitution, Ehekrisen, Gefängnis, wechselnde Liebespartner, Homosexualität oder Misshandlungen geht. Exkurse zum historischen Hintergrund und zu den Berühmtheiten in Ball-Hennings Leben liebt Reetz, doch sie weiten sich nie zu sehr aus, geben ihrem Bild nur mehr Fülle und Tiefe. Sie zitiert ausführlich Briefe, Tagebücher, Erinnerungen und Werke, interpretiert hie und da sogar Gedichte, doch stets mit kluger, quellenkritischer Vorsicht, wenig Spekulation und ohne drögen Jargon; die wissenschaftliche Grundierung und die immensen Forschungsanstrengungen spürt man stets nur im Inhalt und den anregenden Nebenideen der Anmerkungen, nie aber in der Sprache. Vor allem macht Reetz aus Ball-Hennings keine hehre Heldin. Sie spart bei aller Empathie nicht mit Kritik an der egoistischen Mutter oder an ihren übersteigerten religiösen Schuldgefühlen. So gewinnt ihr Bild der Schriftstellerin, Schauspielerin, Tänzerin, Sängerin an Überzeugungskraft, Lebendigkeit und Differenziertheit. Und doch bleibt ein Rest. Bärbel Reetz lässt in kluger Zugeneigtheit Emmy Ball-Hennings das so reizvolle Schillernde und Schwebende, das schwer Fassbare und damit ihr "Leben im Vielleicht".

Titelbild

Bärbel Reetz: Emmy Ball-Hennings. Leben im Vielleicht. Eine Biographie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
400 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 3518397400

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch