Sie kennt keinen Schmerz, schwitzt, blutet und stirbt nicht

Kulturtheoretische und ideologiekritische Analysen von Luhmanns Systemtheorie

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Manfred Frank in seiner Vorlesungsreihe "Was ist Neostrukturalismus?" die Entwicklungslinie vom Deutschen Idealismus zum französischen Denken der Nachkriegszeit gezogen hat, hat er mit Rückbezug auf Hegel davon gesprochen, daß der Weltgeist mit dem Neostrukturalismus wohl das Rheinufer gewechselt hätte. Mit Blick auf Luhmann könnten wir sagen: Der Weltgeist ist wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Das Systemdenken des Preußen Hegel hat in der Systemtheorie des Niedersachsen Luhmann einen in vielfacher Weise würdigen Nachfolger gefunden. Und damit liegt schon eine von zwei der wichtigsten theoretischen Koordinaten vor, auf die hin die Autoren des Bandes Luhmanns Werk betrachten. Die andere ist natürlich der von Manfred Frank sogenannte Neostrukturalismus, insbesondere in den Ausprägungen der Derridaschen Dekonstruktion oder - trotz aller maßgeblichen Unterschiede - der Foucaultschen Diskursanalyse. Es fehlt eine dritte Koordinate, um ein Gesamtfeld aufzuspannen, in dem sich die hier vorgelegte Kritik an der Systemtheorie orientiert: Und das ist die kritische Theorie, wie sie insbesondere in der Weiterentwicklung durch Habermas auch in direkte Konfrontation mit der Luhmannschen Systemtheorie gebracht wurde.

Auf diesem Feld beginnt nun ein Unternehmen, dessen Beiträge sich - so der Untertitel - als kulturtheoretische Analysen von Luhmanns Systemtheorie verstehen, bzw. die sich als "Ideologiekritik der Systemtheorie" verstehen lassen. Um es vorneweg zu sagen: Verblüffend und angenehm ist die Lektüreerfahrung, daß der Sammelband nicht der Gefahr erliegt, allzu Disparates unter einem vagen Oberbegriff zusammenzufassen. Im Gegenteil: Nahezu alle Beiträge schlagen in ein und dieselbe Kerbe und markieren damit eine neue Art und ein neues Niveau der Kritik an der Systemtheorie.

Bewußt wird dieses Unternehmen unter den doppeldeutigen Begriff "Widerstände der Systemtheorie" gebracht. Doch die Doppeldeutigkeit drückt kein oszillierendes Verhältnis aus, sondern eine Entwicklung, wie sie an der Kritik der Systemtheorie selbst nachzuvollziehen und in den Beiträgen auf dem neuesten Stand selbst dokumentiert ist. Es geht nicht nur um den bloßen Widerstand gegen die Systemtheorie, es geht den Beiträgen um eine Kritik der Systemtheorie, indem sie Widerstände, Bruchstellen und Defizite innerhalb des theoretischen Gebäudes aufzeigen.

Nun darf man diesen Widerstand gegen die Systemtheorie als Urgrund der Kritik an der Systemtheorie nicht gänzlich in den Hintergrund drängen, nicht nur, weil er helfen kann, das anfangs skizzierte Feld weiter zu kartographieren, sondern auch, weil seine Ursprünge und Motive ihrerseits hilfreich sind, die Kritik kritisch zu bilanzieren.

Allen Beiträgen ist noch mehr oder weniger deutlich - zum Teil zwischen den Zeilen - anzumerken, welche theoretische Herausforderung die Systemtheorie gerade für die postmodernen Intellektuellen darstellt, wobei sich immer noch Provokation und Faszination durch die Systemtheorie miteinander verbinden können. Im Falle jener Intellektueller, die in der Kritischen Theorie beheimatet sind, ist dies offensichtlich: Eine Theorie, die kein Sensorium für eine Gesellschaftskritik besitzt, die aber andererseits einen immensen Aufwand für die Beschreibung des Funktionierens der Gesellschaft betreibt, muß provozieren.

Wesentlich spannender ist der Fall mit dem Neostrukturalismus gelagert. Zunächst sind auch hier die Unterschiede festzuhalten: dem Interesse für das Ausgeschlossene, das Periphäre, das Dysfunktionale, die Bruchstelle steht auf seiten der Systemtheorie das Eingeschlossene, das Zentrale, die Funktion, die Kopplung gegenüber. Würde es dabei bleiben, hätten wir den Gegensatz von Differenz- und Identitätsdenken. Aber Luhmann ist eben doch nicht Hegel. Auch seine Theorie ist differentiell konstituiert, kennt all die Paradoxien der Differenz und die Probleme der Letztbegründung, die Derrida z.B. ausführlich vorführt. Aber Luhmann nutzt sie anders und gewinnt aus eben diesen Paradoxien genau jene Begründungsleistung, die Derrida ausschließt. So ist es äußerst spannend, wie z.B. Günther Teubner in seinem Beitrag die Differenz zwischen Dekonstruktion und Systemtheorie als Komplement oder mehr noch: als Supplement liest. Seine Gegenüberstellung ist so überraschend wie diskussionswürdig: "Autopoietische Sozialsysteme als Derridas Alptraum. Die Gabe der Gerechtigkeit als Luhmanns Erlösung."

Aber die Konfrontation mit Derridas Dekonstruktion steht nicht im Zentrum des Bandes - und dies ist zugleich symptomatisch für diese neue Art der Kritik. Den Autoren ist bewußt, daß die Systemtheorie sich von einer Theorie der Gesellschaft immer stärker auch zu einer Theorie der Theorie gewandelt hat. Es ist ja auch nicht die Gesellschaftstheorie, die fasziniert und provoziert, es ist vielmehr das sogenannte Theoriedesign, das diese Kritik auslöst. Daher ist diese Kritik kaum soziologisch begründet oder motiviert, sondern im weitesten Sinne geisteswissenschaftlich bzw. kulturtheoretisch. Den Autoren ist daher auch bewußt, welche Immunisierungsstrategien gegen Kritik die Systemtheorien mobilisieren kann. Sie zwingt ihren Gegner das eigene Differenzierungsspiel auf, um erst einmal das Abstraktionsniveau des Kritisierten zu erreichen. Dann aber hat die Kritik schon verloren.

Daher beschreiten alle Beiträge des Bandes einen anderen Weg, und - wie es in der Einleitung heißt - es ist nicht verwunderlich, daß nahezu alle Autoren ihrer Profession nachgehen und die Systemtheorie behandeln wie sie Texte interpretieren. Systemtheorie wird damit zu einem kulturellen Phänomen, ihre Analyse und Kritik sogar zu einer hermeneutischen Aufgabe. So versuchen die Beiträge in - wie gesagt - überraschender Einhelligkeit, den Zwang zur systemtheoretischen Kritik der Systemtheorie zu umgehen; sie "situieren sich so in einem zur Systemtheorie verschobenen Raum". Das bedeutet, daß alle Beiträge die Systemtheorie nachvollziehen, dann aber die Defizite aus einer (hermeneutisch) immanenten Sicht offenlegen. Wenn man so will, kann man folgende Bruchstelle benennen, über die es den meisten Beiträgen gelingt, in die Systemtheorie einzubrechen: Die Systemtheorie beschreibt sich selbst zwar als Teil ihres Gegenstandes, der Gesellschaft, sie kann sich aber nicht als Teil der Kultur begreifen, weil ihr ein entsprechender Kulturbegriff fehlt.

Die Beiträge z.B. von Baecker, Koschorke, Helmstetter thematisieren auf vielschichtige Weise die Unfähigkeit der Systemtheorie, Kultur zu konzeptualisieren und mit Gesellschaft ins Verhältnis zu setzen. Verkürzt gesagt: Systemtheorie blendet Kultur aus, ohne Rechenschaft über Form und Inhalt der Ausblendung ("Luhmanns Rasiermesser", wie es Rudolf Helmstetter nennt) abzulegen. Solche Ausblendungen sind Ergebnis des rigorosen Differenzierungsmechanismus, aus dem heraus die Systemtheorie ihre Aussagen gewinnt. Übrig bleibt folgende systemtheoretische Feststellung: "Die Kommunikation kennt keinen Schmerz, sie schwitzt nicht, sie blutet nicht, sie stirbt nicht." (Helmstetter) Die entscheidende methodologische Frage an die Systemtheorie lautet daher, ob denn die Grenzziehungen in der Tat so messerscharf sind, wie die Systemtheorie es vorführt. Koschorke zufolge kann die Systemtheorie so gar nicht die kulturtheoretisch interessanten 'infektuösen Verletzungen der Grenzhygiene' in den Blick nehmen.

Insofern laufen die kulturtheoretischen Analysen darauf hinaus, die Systemtheorie als Ideologie kritisierbar zu machen und zu kritisieren. Einige Autoren bezeichnen dies als blinden Fleck der Systemtheorie; im Einzelfall müßte man hier Vorsicht anmahnen. Denn der 'blinde Fleck' ist eine systemtheoretische Kategorie, die zu einer systemtheoretischen Kritik der Systemtheorie zwingen kann.

Insgesamt aber zeigen die Beiträge, daß die Totalisierung, wie sie Systemtheorie für sich in Anspruch nimmt, um den Preis einer bisweilen einschneidenden Reduktion erkauft ist, die die Systemtheorie sich selbst nicht mehr eingestehen kann. Kultur ist die Leitlinie; einige Beiträge erweitern dieses Spektrum, indem sie, wie z.B. der von Susanne Lüdemann, die Ausblendung des Beobachtungsstandpunkts als Ausblendung des eigenen Körperstandpunktes und die Ausblendung des Körpers als Ausblendung des das Beobachten leitenden Begehrens entlarvt. Andere Beiträge weisen andere Ausblendungen nach, z.B. die der historischen und gesellschaftlichen Erfahrung des Nationalsozialismus (Lutz Ellrich), die Ausblendung von Genese und Ursprungsmomenten (David Wellbery, Thomas Wirtz), die Ausblendung der (Medien-)Technik (Bernhard J. Dotzler) oder gar die Ausblendung der Gesellschaft selbst durch die Transzendentalisierung der Gesellschaft (Friedrich Balke).

Insgesamt zeichnen die Beiträge ein differenziertes Bild. Wo z.B. Helmstetter und Dotzler kulturtheoretische und medientheoretische Defizite nachweisen, will Elena Esposito die Leistungsfähigkeit der Systemtheorie aufzeigen, und Helmstetter wiederum vermutet, daß die Systemtheorie auch kulturtheoretisch leistungsstärker sein könnte, als sie ist. Wie immer man zu den kritischen Impulsen stehen mag, die von den Beiträgen an die Systemtheorie ausgehen, man muß auch aus systemtheoretischer Sicht zugestehen, daß die Beiträger nichts Unstatthaftes reklamieren. Denn die vorgeführten Ausblendungen machen deutlich, daß es sich nicht um freiwillige Theorieentscheidungen der Systemtheorie handelt, sondern um 'tragic choices' (Lutz Ellrich, Thomas Wirtz), also um Defizite, die sich zwangsweise aus der Theoriearchitektur ergeben und in der Tat, gerade angesichts kulturtheoretischer Anforderungen, denen auch die Systemtheorie ausgesetzt sein muß, ein Manko darstellen. Das bedeutet aber, daß man diesem Band insgesamt zugestehen muß, ein Verfahren der Kritik gefunden zu haben, daß der Systemtheorie gerecht wird, ohne sich auf das systemtheoretische Abstraktionsniveau und Differenzierungsspiel einlassen zu müssen. Aus systemtheoretischer Sicht kann diese Kritik durchaus als konstruktiv verstanden werden.

Titelbild

Albrecht Koschorke / Cornelia Vismann: Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen von Luhmanns Werk.
Oldenbourg Verlag, Berlin 1999.
218 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3050034777

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