Den Tod darstellbar machen

Tanja Langers Debütroman "Cap Estérel"

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michel, ein erfolgreicher Jungarchitekt, hat seine Eltern bei einem Badeunfall in Frankreich verloren, als er fünf Jahre alt war. Er kehrt nach Jahren an den Ort der Tragödie zurück, einer Tragödie, die sein Leben bis dahin bestimmt hat. Bei den Frauen hat Michel zwar Erfolg, zur Liebe scheint er jedoch unfähig zu sein. Eine kurze Affäre mit Elisabeth, eine mehr oder weniger glückliche Beziehung mit Judith - auf dem Weg zurück an die Cote d'Azur holt Michel nach, was er bis zu diesem Zeitpunkt nicht leisten konnte: Trauerarbeit. In Cap Estérel findet Michel nach all den Jahren endlich die Befreiung von der Last, die sein Leben und seine Beziehungen zu Frauen eingeengt hat: Er verarbeitet den Tod seiner Eltern.

Es sind vor allem zwei Hauptmotive, die der Roman entfaltet: der Tod von Michels Eltern sowie Michels Liebesleben und die daraus resultierenden Probleme. Tanja Langer erzählt multiperspektiv: Der Erzähler steht den Protagonisten mit ihren Erlebnisberichten so nahe, als wären die Grenzen zwischen Handelnden und Erzählenden fließend.

In Briefen erzählt Michels Mutter einer imaginären Freundin von den Ereignissen im verhängnisvollen Urlaub und von ihrer Liebe zu Jules, dem Eisverkäufer. Im Rückblick erlebt Elisabeth, Michels ehemalige Freundin, ihre gemeinsame Zeit. Die Rückblende und die zuweilen tagebuchartigen Erlebnisberichte der beiden Frauen öffnen den Text für die unterschiedlichen Perspektiven und Beziehungen zwischen den Figuren. So hebt die Autorin Leidenschaft und sexuelle Begierde ins Überindividuelle: Denn eigentlich geht es ihr um die Liebe in all ihren Spielarten.

Dadurch wirkt der Text zuweilen zerfahren, auch wenn sich die einzelnen Erzählungen am Ende zu einem Gesamtbild fügen. Streckenweise bleibt unklar, welche der Figuren gerade zurückblickt, kommentiert oder bewertet,. ein Zeichen dafür, daß es Langer nicht in erster Linie um klare Perspektiven, sondern um die spielerische Komplexität der Liebe geht.

Geschickt versteht es die Autorin, einzelne, zuerst noch fragile Verknüpfungen zwischen Handlungsfragmenten und diversen Protagonisten herzustellen. Der Leser wird so auf eine Reise des Entdeckens, der "Entschlüsselung" geschickt, um die noch fehlenden Verbindungen zu ergänzen und so auf das Geheimnis dieses Romans zu kommen. Und diese "Entdeckungsreise" ist es gerade, die den Roman für den Leser so interessant macht: er macht sich nach und nach ein Bild, und gegen Ende des Romans entsteht so der Kosmos von "Cap Esterel".

Es ist wohl gerade diese ungewöhnliche, fragmentierte Erzählweise, die das Undarstellbare, das ein Kind erleiden muß, darstellbar macht, wenn es den Tod seiner Eltern miterlebt, ihn aber noch nicht begreifen kann. Tanja Langer gelingt es sehr präzise, diese Problematik in einer Dichte und Nähe darzustellen, die einer durchgehenden, konventionellen Erzählform wohl überlegen ist.

Ein guter Debütroman also, frisch, unkonventionell und respektlos verbindet er Tod und Bewältigung mit Liebe in all ihren Formen. Ein gewagter Spagat, möchte man meinen. Tanja Langers "Cap Esterel" - sinnlich und in jedem Falle lesenswert.

Titelbild

Tanja Langer: Cap Esterel.
Luchterhand Literaturverlag, München 1999.
144 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3353011579

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