Lesen Männer anders?

Silke Schlichtmann untersucht die Geschlechterdifferenz in der Literaturrezeption um 1800

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Frauen haben anders und anderes gelesen als Männer" - ob sich diese "prominente These" halten lässt, das überprüft Silke Schlichtmann in ihrer Studie "Geschlechterdifferenz in der Literaturrezeption um 1800". Anhand von - oft ungedruckten - zeitgenössischen Briefen unternimmt sie eine vergleichende Untersuchung, mit der sie die Frage beantworten will, ob sich die Kategorie Geschlecht um 1800 als ein "den Leseakt bestimmendes Moment" nachweisen lässt. Natürlich ist sie sich bewusst, dass es "die Männer und die Frauen und somit auch die männliche und die weibliche Leseweise" um 1800 ebenso wenig gab, wie es sie heute gibt; dass es also allenfalls darum gehen kann "geschlechtsspezifische Tendenzen herauszuarbeiten".

Die Autorin leitet ihre Untersuchung mit sehr gründlichen methodischen Vorüberlegungen und einer ebensolchen Sichtung des Forschungsstandes ein. Im folgenden unterzieht sie ihr Quellenmaterial - überwiegend zeitgenössische Briefe, die Selbstaussagen über Lektüreerfahrungen insbesondere von "Wilhelm Meisters Lehrjahre" und "Wahlverwandtschaften" enthalten - einer philologisch genauen und differenzierten Analyse. Den Fokus ihrer Arbeit richtet sie hierbei ganz auf die von "den Lesenden ausgehenden Vorgänge im Leseakt, auf ihre[n] Umgang mit dem Text".

Schlichtmanns vorsichtig formuliertes aber gleichwohl fundiertes Fazit lautet, dass die "prominente" These, der gemäß Frauen anders lesen, wenigstens für die Zeit um 1800 so nicht aufrechterhalten werden kann. Denn in den herangezogenen Briefen lassen sich zwei Ebenen unterscheiden. Zum einen wird in ihnen "das Lesen selbst mehr oder weniger direkt vorgeführt" zum anderen werden "explizite Selbstzuschreibungen" des Leseverhaltens vorgenommen. Führen die LeserInnen ihr Lesen unmittelbar vor, zeige sich, dass nicht nur das "Konzept einer Liebe zwischen Leserin und Autor" gelegentlich "ausdrücklich durchbrochen" wurde, so dass "die Positionierung zwischen Autor und Leserin nicht mehr eindeutig zu hierarchisieren" ist, sondern auch dass es durchaus keine "gängige Leseweise" von Frauen gewesen ist, den Helden oder Protagonisten eines Romans mit dessen Autor zu identifizieren und sich selbst entsprechend "als die weibliche Romanfigur zu imaginieren". Schließlich erweise sich, dass "Liebe zum Autor als Lektüreeffekt" bei Lesern nicht seltener als bei Leserinnen auftrat. Auf der zweiten Ebene fällt jedoch auf, dass dessen ungeachtet sowohl Frauen als auch Männer ihre Leseweisen selbst durchaus "in Form plakativer Geschlechterpolaritäten charakterisieren". Es bleibt also festzuhalten, dass die zeitgenössischen Goethe-Leser und -Leserinnen "sich eher in der Art, wie sie ihre Leseweise klassifizieren, unterscheiden als im Lesen selbst".

Die auf Friedrich A. Kittler zurückgehende und "weitgehend kanonisierte" These, der gemäß das weibliche Geschlecht das "lesend-liebende" sei, und durch "emphatisch-identifikatorischen Wiederholungslektüren" sowie der "Rückadressierung selbiger an den Dichter" Autorschaft erst konstituiere, ist, so Schlichtmann, also letzten Endes nur "die Hälfte der Wahrheit". Denn weder handelt es sich hierbei um die einzige Form weiblicher Leseakte, noch lasen Männer grundsätzlich und insgesamt anders.

Titelbild

Silke Schlichtmann: Geschlechterdifferenz in der Literaturrezeption um 1800? Zu zeitgenössischen Goethe-Lektüren.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2001.
303 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 3484321075

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