Historiker und Menschenerzähler

Michael Schneiders Romanbiographie über den Franziskaner und Jakobiner Eulogius Schneider

Von Kurt MillnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kurt Millner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer wirklich und nicht unauffällig gelebt hat, hat wohl schon deshalb die Chance, neben dem Interesse der Literaten das anderer Disziplinen zu wecken. Johann Georg Schneider, ehrgeiziges, unbequemes Multitalent und Milieuwechsler par excellence, scheint das zu bestätigen. 1756 als Weinbauernsohn in Wipfeld geboren und 1794 in Paris guillottiniert, ist er als Theologe und Franziskanermönch Eulogius Schneider der religiösen, als Politiker der lokalen und allgemeinen und als Poet und Publizist der literaturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung bekannt, letzterer vielleicht verstärkt seit dem Aufkommen der sozialgeschichtlichen Orientierung des Faches, die, in Deutschland eine Frucht der 68er Bewegung, das Interesse auf lange vergessene Repräsentanten frühdemokratisch-jakobinischer Bewegungen gelenkt hat.

Michael Schneider gibt Eulogius Schneider in seiner historischen Romanbiographie in der Gestalt des Johann Nepomuk Brenner einen Biographen bei. Dieser verfolgt im Genfer Exil der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts und in der doppelten "Rolle des gestrengen Chronisten" und "einfühlend nachvollziehenden Erzählers" verschiedene Ziele zugleich. Er zeichnet den Lebenslauf Eulogius Schneiders nach, in seinen äußeren Stationen und in seinen inneren, die Schneider in einem oft von Gesprächen angestoßenen, in Träumen gespiegelten, bis zuletzt unabgeschlossenen, widerständigen Prozess sich vertiefender Einsicht zeigen, insbesondere was seine "Wandlung vom glühenden Vorkämpfer der Freiheit und Gleichheit zum Vollstrecker der terreurs" betrifft - die für Brenner intrikateste Frage.

Er durchleuchtet die Französische Revolution auf eine Weise, die ebenso emphatisch auf ihrem unabgegoltenen "Erbe" besteht wie sie ihre Abgründe und Entgleisungen nicht vergisst. Er hält seiner restaurativen Gegenwart als Demokrat und Republikaner einen kritischen Spiegel entgegen. Und er leistet "Wiedergutmachung" an Schneider, den er im zur Hinrichtung führenden politischen Unrechtsprozess "verleugnet" hat, im Unterschied zu anderen mit Schneider Befreundeten oder ihm nahe Stehenden, die ihren Wunsch zu überleben nicht über ihr moralisches Gewissen gestellt und dafür freilich auch bezahlt haben, in einigen Fällen mit dem Leben. "Feigheit macht hellsichtig oder Hellsichtigkeit feige, wie man es nimmt."

Kann man, muss man unter mörderischen Umständen moralisch integer bleiben? Wie kann man Ursachen forschend, über billige moralische Entrüstung hinaus, dem Terror auf den Grund gehen? Das sind Fragen und Anliegen, die Brenner am exemplarischen historischen Fall umtreiben und sich dem Leser mühelos in eigene umsetzen. Für manche gilt Ähnliches vielleicht nur mit Einschränkungen, wenn Brenner im "Epilog" schließt, es lag und liegt am "fatalen christlichen Dualismus".

"Die strikte Zweiteilung der Welt in Himmel und Hölle, Licht und Finsternis, Gott und Satan, Gut und Böse, Tugend und Laster etc. hatte sich auch dem Denken der Aufklärung und der Revolution tief eingegerbt [...]. Hätte ich ein philosophisches Fazit aus dem Untergang unseres Helden und der Grande Révolution zu ziehen [...] dann wäre es dieses: Solange wir den christlichen Dualismus nicht überwinden, wir nicht aufhören, in moralischen und politischen Schwarzweißkategorien zu denken, [...] wird es - bei allen sonstigen Fortschritten [...] - keinen wirklichen Fortschritt in der Humanität geben."

Zur Freude der einen und zum Ärger der anderen gibt das Buch aber auch Stimmen Raum, die den hier ans Christentum in toto gerichten Vorwurf erst für das (nach-)augustinische und nicht das paulinische gelten lassen. Der Polyhistor Michael Schneider ist nicht weniger vielseitig als sein Held.

Das mag genügen, um eines anzudeuten: Schneiders Buch beeindruckt durch historische Intelligenz und die Fähigkeit, aus einem bestimmten historischen Material ins aktuell Virulente hineinzusprechen. Schneider baut um einen Fall herum ein detailliertes, komplexes Epochenpanorama auf, an dem klar wird: Geschichte ist nicht abgetan, sie brennt den Späteren auf den Nägeln.

Marx und Freud (über die Schneider dissertiert hat) werfen ihre Schatten voraus bzw. zurück. Konservative Aristokraten (Merville) führen gegen progressive Aufklärer vernunftkritische Einsichten Max Webers und der Ökologiebewegung ins Treffen und reden auch schon einmal im Tonfall Goethes. Aristokraten, die ihre Begeisterung für eine gemäßigte Revolution in den Septembermorden zur Gänze verloren haben (Savany), argumentieren nicht nur direkt mit de Sade, sondern indirekt mit Elias Canetti gegen die rousseaustische und für eine realistischere Anthropologie. Brenners Absage an Dualismen hat etwas vom Zungenschlag der Postmoderne, wo diese alteuropäische Fundamentalismen überwinden möchte (wie etwa Peter Sloterdijk in seiner Salzburger Festspielrede).

Zwiespältig ist der Eindruck, der sich vom Menschenerzähler Brenner ergibt. Einerseits gelingen ihm glänzende Porträts, Ensembleszenen und differenzierte psychologische Studien: Eulogius Schneiders Plädoyer für die rechtliche Gleichstellung der Juden vor dem Straßburger Gemeinderat; der Exterminator Saint-Just, dem sich Eulogius Schneider im Gespräch entzieht und unterwirft.

Andererseits geraten ihm Figuren teilweise zur Schablone. Ein Beispiel am Rande der (harmlos ,böse') salbungsvolle Prälat beim Eintritt Schneiders ins Bamberger Franziskanerkloster, ein besonders Gewichtiges die (durch und durch ,gute') aufopferungsvolle Sara, zwischen und von dem ,wilden' Schneider und seinem ,ruhigen' Freund Cotta hin und hergerissen, kurz vor Schneiders Tod Schneider angetraut, drei Jahre nach dessen Tod die Frau Cottas, "dem schon ihre erste Neigung gegolten" - eine in konzeptioneller Hinsicht zentrale Figur, als positive Heldin des Romans, aber, anders als Eulogius Schneider, ohne Neigung, im Leben "Mittelpunktfigur" sein zu wollen, stärkste Stimme der menschlichen Frau, wenn nicht Menschlichkeit überhaupt, in einer von schrecklichen Männern dominierten (alten?) Welt.

Aber vielleicht verbirgt sich hinter solchen Einwänden die problematische Vorstellung des Werkes aus einem Guss oder die persönliche Vorliebe für bestimmte Stile und Genres. Dann ließe sich zur Verteidigung dieser Brennerschen Ästhetik nicht nur das Gegenmodell der Mischungen anführen, sondern auch die Möglichkeit erwägen, das Schwanken zwischen Analyse, Satire Idylle und anderem spiegle selbst noch in Brenners geduldigen Versuch, dem alten Dualismen zu entkommen, seine Befangenheit in diesen. Wie Eulogius Schneider unter bestimmten historischen Umständen nicht ungeteilt Mensch sein konnte, gibt es unter denselben Umständen keinen reinen Brennerschen Stil, sondern Brüche und Pluralität? Ist Brenner auch literarhistorisch typisch gemeint? Das wäre ein weiterer Schachzug des Zauberers, der der Autor als "Mitglied des Magischen Zirkels" auch in einem anderen Sinn sicher ist und zu dem der etwas plump-reißerische Untertitel des Buches "Roman eines deutschen Jakobiners" nicht zu passen scheint.

Zur Möglichkeit ästhetischer Kritik an Schneiders Buch unter einem etwas anderen Aspekt: Die leise historisierende Patina des Stils wirkt nicht immer reizvoll und konsequent, sondern stellenweise ermüdend. Aber auch darüber wäre mehr zu sagen. Eine Leistung dieser Patina besteht wohl auch darin, dass sie, wenn sie kaum zu spüren ist oder ganz aufgegeben wird, den Eindruck von Aktualität verstärkt.

Schneiders Buch bringt viele Voraussetzungen mit, um von sich reden zu machen. Ideologisch-politisch als Votum für die nie schmerzfreie Besinnung auf Geschichte, für genaues Hinsehen und Abwägen, gegen Moden und Voreingenommenheiten; als Eintreten für Aufklärung der Aufklärung und gegen die engbrüstigen Verabsolutierungen der Vernunft wie ihres rauschhaft-mythischen Gegenteils; als Plädoyer für Freiheit und Gerechtigkeit, Balance und nicht Krieg der politischen Kräfte; als Anstoß zum Bedenken der Rolle der Religion in Gegenwart und Geschichte.

Ähnlich indirekt aber dezidiert nimmt Schneider im ästhetischen Spannungsfeld Stellung. Sein Erzähler Brenner polemisiert am Anfang programmatisch von einem Standpunkt, der an Heine und die Vormärzliteraten erinnert, gegen eine Literatur, die sich "im abgehobenen Reich des klassisch und romantischen schönen Scheins" bewegt und "die wirklichen Geschichtsbegebenheiten, die durchaus prosaischen Not- und Zwangslagen, die Irrungen und Wirrungen der um ihre Befreiung ringenden Menschen und Völker [...] als anstößige [...] Zumutung [empfindet]".

Darin steckt Schneiders eigene Poetik und Ästhetik, eine des Realismus in einem weiteren Sinn, die die Mühen der Ebene des Faktischen nicht scheut. Auch Brecht holt er nicht ohne Grund zitierend-anspielend in seinen Kosmos herein. Damit liegt er quer zu Positionen des Schnellschusses aus der Hüfte wie zu solchen, die Literatur auf das phantastische Überfliegen des Alltags einschwören wollen. Nicht alle Tatsachen können sonnig strahlen; aber etwas Berauschendes hat seine Genauigkeit auch.

Einfach chronologisch wegerzählt werden die geschichtlichen Fakten aber bei Schneider nicht, sondern gebrochen durch einmontierte Auszüge aus Tagebuchaufzeichnungen des Helden und Saras sowie durch thematisch-motivisch-sprachliche Spiegelungen gegen die Chronologie. Schneiders Buch bietet also auch Anlass, das polemisch geführte Gespräch über die Gattungen der (Roman-)Biografie und des historischen Romans fortzusetzen.

Titelbild

Michael Schneider: Der Traum der Vernunft. Roman eines deutschen Jakobiners.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001.
620 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3462029681

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