Welcome to Pluriverse

Ein Sammelband auf der Suche nach der Diesseitsreligion

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Jacques Lacan die Rückkehr des privaten Glaubens in der Postmoderne feststellen zu können glaubte, wird unter dem Begriff "Religion" vielerorts versucht, Erklärungsmuster für aktuelle und vergangene "kulturelle" Ausprägungen zu finden. Anne Honer und ihre Mitherausgeber befrachten diesen Umstand mit den Schlagwort "Diesseitsreligion". Sie wollen - der Untertitel verrät es - eine "Deutung der Bedeutung moderner Kultur" versuchen.

Die zumeist aus der Soziologie stammenden Texte betrachten die eigene Gesellschaft als Fremde und betreiben im Heimischen eine ethnologische Feldforschung. Keine - ohnehin verlorenengegangen geglaubte - Einheit soll mehr rekonstruiert werden, vielmehr will die so verstandene Soziologie die Übergänge zu einer je eigenen Moderne aufzeigen. Nicht mehr eine Universaltheorie ist also gefragt, sondern eine Pluriversaltheorie. Dabei fungiert die Wissenschaft als vermittelnde Instanz, die zwischen den unabhängigen, aber im Zusammenhang stehenden Lebenswelten "übersetzt".

Diese Übersetzungsarbeit versuchen die Autoren anhand des Konstruktes "Diesseitsreligion" zu leisten. Dabei werden (Welt-)Deutungs- und Glaubensmodelle gleichgesetzt. Ihre Bedeutung liegt, so machen die Verfasser klar, in der Konstituierung ganzheitlich geltender Symbole. Die "sinngebende Weltanschauung" soll analysiert werden, Kultur tritt als "Diesseitsreligion" in Erscheinung. Die Existenz der Gesellschaft sei eingebettet im Glauben an weltanschauliche Ideale, an den Symbolgehalt sozialen Handelns. Kultur sei dabei als auratische Erscheinung zu begreifen (als ob es den Aura-Zertrümmerer Walter Benjamin nie gegeben hätte); nachgegangen werden soll der Frage, wer oder was in der Gegenwart die "Aura der Kultur" konstituiere. Ein universales Erklärungsmodell soll die "'verdiesseitigte' Form der Religion" sein. Die "Analyse" vollzieht sich in drei Schritten: Kapitel zwei will die durch Politik und Wirtschaft konstruierten "Bilderwelten" untersuchen, aus denen sich das Individuum Teilaspekte zur Schaffung von "Selbstbilder[n]" (Kapitel drei) leiht, die, in symbolisch und rituell "überhöhter" Form Bestandteil der universalen "Symbolwelten" sind (Kapitel eins).

So aufschlussreich einzelne Beiträge sein mögen (fast ausschließlich von prominenten Experten verfasst), so wenig befriedigt das Konzept. Aber sowohl die Umdeutung in eine solche Meta-Sinnwelt, als auch die Frage der Anwendbarkeit dort bereitgestellter Bewältigungsrezepte auf eigene Lebenssituationen verbleiben als Entschluss und Überzeugung beim Einzelnen - und sind ohnehin schon für den "Nächsten" keineswegs mehr verbindlich. Dem ist mit "ganzheitlichen" eben so wenig wie mit "teilaspektiven" Fragen beizukommen. Wittgenstein hat das schon 1922 in seinem "Tractatus" festgestellt: "Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."

Titelbild

Anne Honer / Kurt Ronald / Jo Reichertz (Hg.): Diesseitsreligion. Zur Deutung der Bedeutung moderner Kultur.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2000.
444 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3879406596

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