Sprachverschläge und Zwingstrick

Prosa von Michael Lentz

Von Ron WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ron Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Lentz organisiert keine Atempausen. Der Gedanke wird wie aus dem Gehirnrevolver eines Fanatikers in den Text geschossen. Resultat dieses Sprechens in systolischer Anspannung ist ein wild blühendes Furioso aus Assoziation und dem konzentrierten Ausschwenken des Assoziierten. "Es sehnt mich nach unverständlichem", referiert die Redefigur in "Garten. Eine beetfigur". Und tatsächlich geht es darum die Sachverhalte aufzulösen. So ist die Rede ungehalten, rumorend, diszentrisch. Hier sprechen zum großen Teil Maniker, Eigentümliche, Verstörte, und sie sind Maniker aus den eigenen Eingeweiden. Das Unverständliche dient als Heilland gegen Konventionalität, gegen Reihenhausliteratur. Darum die Einpflanzung von Unkraut, darum mittels Seancen über Substanzen hinwegfegen, darum "sprachdecke, kalkfrei. Oder zum beispiel ins hirn mir sagen wenn da so ein auftauchen ist von fotowindmaschine starres raster falle verbindliches so etwas wie zuordnen".

Der rote Faden ist hier nicht mehr als ein Zwingstrick, der die Ausschweifung zurückbinden soll. Aber immerhin ist er da, vielleicht sogar zum Nachteil der in Beschleunigung gebrachten Wortstrecken. Denn die Semantik ist gelockert und pulsiert - doch frei, gänzlich entzügelt ist sie nicht. Fast leitmotivisch für den ganzen Band heißt ein Sprechstück "Das muss von etwas handeln". Um die Verschläge der Sprache herum gibt es immer(hin) noch die Dinge. Und die wollen und sollen bewältigt sein. Nicht von ungefähr wird eingangs des Buches Hermes Phettberg zum Bürgen für nicht nur die literarische Relevanz, sondern die Dringlichkeit der Realitätseinbindung berufen - "wenn etwas phantasiert ist, dann ist es immer zu ersehen."

Wenn auch die Psychologik über die Stränge schlägt, der Text Hackstockzonen des Bewusstseins zu übermitteln versucht und wenn offensichtlich Plausibilitäten hintergangen werden (oder was kann es heißen, sein Ohr zu "veröffentlichen", wie präzise ist "förmig-rund" gesagt?), diktieren letztlich die Verhältnisse den Text. Die Sprache bleibt Erörterung der Realien, und als solche in gewisser Hinsicht gelähmt, und dann auch weniger rauschhaft als brüchig. Es kommen Stimmen "aus dem sinnjenseits" zur Geltung, und das äußerst massiv.

Lentz organisiert die Rede als aufgewühlte Erinnerung (mit geringer Distanz zur Gegenwart). Erzählperspektiven werden verschnitten, wild gestikulieren die Äußerungen und bohren sich immer wieder neu - "wenn sie mal hinschauen wollen" - in ihre Themen. Die "Muttersterben"-Stücke sind Montage hier, Zitat dort, und sicher lassen sich auch sublime Reminiszenzen aufdecken, "kreuzgestämmte" Verstrebungen, hinter denen man etwa Oswald Egger vermuten darf. Dazu gesellt sich ein Nölen, das phasenweise schon sehr bernhardesk wirkt.

Den textinternen Konfusionen merkt man die Bemühtheit an, genau so wie man spürt, dass hier bewusst (vs. authentisch) konfrontativ formuliert wurde. Der Text schwemmt und raunt und gibt sich, vor der Folie einer angestrengten Naivität, entfesselt, entbrannt. Aber das Erzählte hinkt der sprachlichen Absicht hinterher. Frage: Wo ist die tiefere Psychologie? Das Ich ist unterwegs in Denkschleifen. Wenn man sich auf die Schlierenzüge nicht einlässt, drohen bloß unsaubere Oberflächen zurückzubleiben. Dazu ein Beispiel - aus einem Text, der durch den parallelen Abdruck des Manuskripts besonders geadelt scheint: "Ich habe fliegen noch nie verstanden. Luftlöcher und turbulenzen rauben mir den verstand. Ich will völlig in ruhe fliegen. Durch suppe fliegen ist das schlimmste. Schlechtwetterfronten und suppe, das lässt mich erst einmal in die tüte kotzen. Nach dem kotzen ist dann wieder platz fürs mittagessen."

Da vorsichtigere Begriffe nicht zur Verfügung stehen, sei hier die Zuschreibung Trash gewählt. Trash im Gewand des Avantgarden. Impuls scheint die Expulsion zu sein, das Hinaussprechen abseits des Hochartifizellen. Lamentieren und Repetieren, um die Wirklichkeit nicht ans Vergessen zu verlieren. Irgendwie kathartisch: Nach dem Kotzen ist wieder Platz für Nahrungsaufnahme. Und nichts ist zu nichtig, um eingenommen zu werden. Alles ist in Turbulenzen zu bringen, zu gebrauchen für die Serpentinen der Exkurse und die in die Länge ziehende Narration.

Es gibt Ausnahmen in diesem Buch. Aber immer wieder auch Hast und den Drang nach unbedingter Ausführlichkeit. Wie es leider eben auch bei großen Verlagen die Versessenheit auf Quantität gibt.

Titelbild

Michael Lentz: Muttersterben. Prosa.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
186 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3100448103

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