Moderne Nymphomaninnen

Posen der Unempfindlichkeit bei Virginie Despentes, Carol Groneman und Catherine Millet

Von Katrin MackowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Mackowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sex sells, keine Frage. Für Kunst und Porno, längst vereint im harmonischen Grenzverkehr, sind Tabus Schnee von gestern. Frauen wie Christine Angot schreiben autobiographisch über Inzest, die halb inszenierte, halb lebensechte Sexsucht von Catherine Millets oder Virgine Despentes lassen alle Masken des Begehrens fallen. Die Frau geht auf Aufriss. Ohne Ende. Niemand kann ihr was. Sie ist die neue Unantastbare, die sich nimmt, was ihr zwischen die Beine kommt. Unverhüllter denn je. Auch im Film. In "Intimacy" holt sich eine unglücklich verheiratete Frau Sex pur, in "Romance" rächt sich eine Frau in unzähligen Sexabenteuern mit Männern an ihrem Freund, der sie von der Bettkante stößt. Sex ist der Zwang zur Wiederholung, austauschbar und in seiner Aufgeblasenheit deshalb bedeutungslos. Literarische wie filmische Großaufnahmen über Sex-Künste setzen also das Geheimnis von weiblicher Sexualität und Begehren leichtfertig aufs Spiel. Aber die uralten Versagensängste der Männer einer grenzenlos lustvollen Frau gegenüber, das viel diskutierte Thema Macht und Sex, lassen sich trotzdem nicht vom Tisch wischen. Neu ist, dass es die Frauen selbst sind, die die Funktionsweisen von Körpern und Wünschen eigenmächtig zum Experimentierfeld erklären, aber jetzt die Verfügbarkeit ihrer Sexualität bewusst aus der Schusslinie des Mannes nehmen. Neu ist, dass sich hinter aller Lust eigentlich Unlust verbirgt, die totale Verweigerung. "Bais-moi", "Fick mich", so der Titel eines Buches der Ex-Punkerin und Ex-Stripteasetänzerin Virginie Despentes, in dem sie Männer nach dem Koitus auf furiose Weise tötet. Oder: "La vie sexuelle de Catherine M.", das Skandalbuch der Gegenwart über das sexuelle Leben der Art-Press-Direktorin Millet, die Unersättlichkeit vortäuscht, und sich als Frau nach endloser Wilderei zum leblosen Gegenstand degradiert. Was will das Weib, fragte einst Freud. Sich auf diese Weise um den Genuss bringen? Sich töten? Nur so tun, als ob?

"Die Frau, das ist für den Mann der Tod", schrieb die Feministin Hélène Cixous in ihrem Essay "Geschlecht oder Kopf" Ende der 70er Jahre und wünschte sich einen bisexuellen Analytiker wie einst den blinden Teiresias herbei, der Machtfragen zwischen Mann und Frau wie damals im Streit zwischen Zeus und Hera mit dem Verständnis für beide Geschlechter glättet. Vordergründig ging es um die Genussfähigkeit der Geschlechter. Wer genießt mehr? Hintergründig ging es um sexuelle Potenz, um die Angst: Wer kann mehr? Die Antwort von Teiresias lautete: "Wenn der Genuss in zehn Teile geteilt werden könnte, so würde die Frau davon neun haben". Na, wunderbar, dass die Frau zu multiplen Orgasmen fähig ist, dass sie kommt und kommt, gefährlich oft. Die neuesten Kunst-Versuche der Französinnen aber kaprizieren sich auf die Frau, die nicht mehr kommen will, gerade weil sie Sex am laufenden Band hat. Und das möglichst gefühllos, also anästethisch. Diese Anästhesie betrifft auch ihre Kunst: Von Höhepunkten keine Spur. Zuschauer und Leser bleiben unberührt. Die Zähmung einer weiblich wilden Natur aus den eigenen Reihen der Frauen ist gelungen. Dagegen klingt der feministische Versuch der Hélène Cixous bieder, weiblicher Wildheit mit dem traumwandlerischen Modell von Bisexualität zu begegnen, wo Mann und Frau ebenbürtig sind. Auch der wieder aufkeimende Gedanke von platonischer Rundheit, in der Mann und Frau ein Geschlecht bilden, ist vergleichsweise harmlos. Bestsellerautorinnen wie Alice Schwarzer mit ihrem Buch "Der große Unterschied" oder Susan Faludi in "Männer, das betrogene Geschlecht" werben synchron zur großen weiblichen Unlust um Verständnis für den geplagten Mann, den Schwächling. Eines hatten sie jedenfalls damit nicht im Sinn: weibliches Begehren zu vernichten. "Man ist versucht, der Geschichte, der Kultur, die Frage nach der Frau in völlig elementarer Weise zu stellen", warnte damals Hélène Cixous. Sie richtete sich gegen männlichen Sichtweisen Freuds über die biologische Natur der Frau. Gegen die Betrachtung der Frau als Passive, Empfangende, als Wesen, das der Penisneid treibt. Aber genau um das Elementare geht's doch beim Sex. Auch bei den Sex-Abbildern auf Leinwand und Schrift. Also: Was will das Weib? Was kann sie, wie kann sie und wie oft? Nymphomanie heißt das Reizwort, an dem ein schöner langer 'Schwanz' von Mythen hängt. Geschichten über Nymphen mischen sich im Begriff Nymphomanie mit den Mutmaßungen darüber, was das Manische daran ist, wenn sie die ist, die immer will. Die Nymphomanin ist eine, "die mehr Sex hat als man selbst", erklärte der Sexualforscher Alfred Kinsey 1953. Das klingt einfach und lapidar. Schwerwiegender dagegen der Satz von Hélène Cixous: "Die Frau, das ist für den Mann der Tod". Auch ohne 'abnormes' Sexualverhalten im Kopf meint sie: Die Frau schafft den Mann. Sie lehrt ihn den Tod. Auf die Geschichten der Nymphen und alle noch so modern gewebten Folgegeschichten der jungen französischen Künstlerinnen trifft das zu. Mehr noch. Der Satz heißt jetzt: Die Frau, das ist nicht nur für den Mann, sondern auch für die Frau der Tod. "Wenn ich mich während des Akts im Spiegel sehe, sehe ich vollkommen ausdruckslose Züge", schreibt Catherine Millet, eine zeitgenössische Nymphe, und meint damit nicht den "kleinen Tod", den Orgasmus, sondern Gleichgültigkeit.

Die Nymphe ist von jeher das berühmte Mischwesen, oben Frau, unten Tier, das vom Mittelalter über die Antike bis heute immer wieder zur Verklärung der Geschlechterdifferenz herhielt. Nicht gleichgültig, sondern leidend. Zählten die Nixen der Antike noch zu den Halbgöttern, die die Gewässer bewachten, haben die folgenden Fischfrauen ein Problem. Sie sind keine Mittler mehr zwischen Gott und Mensch, sondern phallisch fordernd. Sie sind Schwanzfrauen mit einem Identitätsproblem. Nicht Fisch, nicht Frau. Dichter wie Fouqué oder Eichendorff erzählen von ihren Schmerzen darüber, die sie zu Rächerinnen macht. Die Meerfrau Melusine straft ihren Liebhaber, weil er ihr Geheimnis: nämlich ihren Schwanz, durchs Schlüsselloch beim Baden entdeckt.Undine opfert ihren fischigen Unterleib, weil sie sich nach der Liebe zu einem Mann sehnt, der mit beiden Beinen auf der Erde steht - und küsst ihren Auserwählten zu Tode. All die schönen Sirenen und Najaden rächen sich für ihre undefinierbare Natur mit verlockendem Gesang und lassen jeden Mann, der ihrer Stimme verfällt, im Meer ersaufen. Die Verbindung von Natur, Tod und Eros im Bild der Nixe "ist das Wunsch- und Schreckbild einer elementaren Weiblichkeit, oder anders formuliert, der Mythos vom Naturwesen Frau", schreibt die Literaturwissenschaftlerin Inge Stephan über Weiblichkeit, Wasser und Tod. "Das erste Opfer dieser Unterwerfungsprozesse ist der Mann selbst, das zweite Opfer aber ist die Frau". Lustvolle Entgrenzungs- und Vermischungswünsche der Nymphen, die ihren Schwanz loswerden müssen, verbergen sich auch hinter zeitgenössischen Varianten auf dieses Thema. Die am Mann erprobten Kastrationsversuche enden im eigenen. "Ich seh mich selbst wie eine Fremde, wie ein Objekt", sagt die Autorin Catherine Millet. Und diese Fremdheit dem eigenen Geschlecht gegenüber, zunächst als literarische Pose eingeübt, kann nicht spurlos am eigenen Körper, an der Genussfähigkeit vorübergehen.

Feuilletonkritiker sind vorsichtig damit, Autorinnen wie Millet, Despentes oder Breillats, deren Leben mit ihren Büchern verschmelzen, mit dem Etikett 'nymphoman' zu bezeichnen und das Bild der schwanzgesteuerten Nymphe auf sie zu projizieren. Während Madonnas Sex-Image, Schlampenkult und Girl-Power noch männliche Klischees von geilen verfügbaren Weibern erfüllen halfen, räumt die Kritik diesen weiblichen Sex-Inszenierungen als Kunstwelten einen hohen Stellenwert ein. Der Begriff Nymphomanie - zu verstaubt. Die Autorin Catherine Millet konfrontiert die Leser mit Fakten, mit "der a-peronalen Struktur von Sexualität, mit schmuddeligen Schauplätzen, vom Parkplatz bis zu den Gebüschen des Bois de Boulonge" (SZ). Das sei kein "stilistisches Anmach-Gehabe", urteilt die Süddeutsche Zeitung, und erst recht keine "nymphomanische Hysterie". Oder in den Worten des österreichischen Nachrichtenmagazins Profil: "Die Auftritte von Frauen wie Millet, Despentes und Breillat sind von einer Kraft und Vehemenz, dass der Gedanke, sie zu Sex-Nymphen im herkömmlichen Sinn zu machen, absurd erscheint". Auch die Psychoanalytikerin Marina Gambaroff findet, dass "sexuelle Entäußerungen dieser Art doch ein Ergebnis der Emanzipation sind. Frauen probieren sich eben aus".

Nymphomanie ist eine psychosexuelle Störung - der krankhaft gesteigerte heterosexuelle Geschlechtstrieb bei Frauen, geprägt von unstillbarem Verlangen nach sexuellen Kontakten mit verschiedenen männlichen Partnern, so die klinische Quintessenz gängiger Definitionsversuche in Sexuallexika. Und weiter noch: Bei Männern heißt dieselbe Hypersexualität "Satyriasis" oder "Don Juanismus": sie wird allerdings weniger sozial geächtet oder pathologisiert. Der Mann, der erobert, ist und bleibt ein Held. "Beide Geschlechter erleben aber bei diesem Krankheitsbild Sex als Sucht, als ewig zwanghaft verlaufenden Eroberungstrieb, der weitgehend beziehungslos bleibt", sagt der Wiener Sexualwissenschaftler Dieter Schmutzer. Meistens kommen sexsüchtige Frauen nicht einmal zum Orgasmus. Sie gelten als frigide. Kälte und tödliche Verführungskraft gleichzeitig kennzeichnen die widersprüchlichen Seiten der Etikettierung 'nymphoman', die sich im Aktionismus der Frauen, die um jeden Preis Sex brauchen, wiederholt. Die Heldin in "Romance" fickt sich durch den Tag, und am Ende feiert sie den Mord an dem, der sie verschmähte. Nymphomanische Rache für Zurückweisung. Das war die Lust, nicht der Sex. "Eigentlich ist der Begriff Nymphomanie heute obsolet, genau wie der Begriff 'frigide'. Für die eine Frau mit exzessivem Sexualverhalten ist es pure Lust, für die andere das Leiden an einem Zwang", sagt Dieter Schmutzer. Sicher ist, dass das Bild der Nymphomanin als Paradebeispiel für die coole, männerkastrierende Frau in die Geschichte weiblicher Lust eingegangen ist.

Für die Sexualwissenschaftlerin Carol Groneman am John Jay College New York ist dieser Begriff aber immer noch "die Metapher für die Ängste und Fantasien, die sich im Laufe der Jahrhunderte im Zusammenhang mit weiblicher Sexualität entwickelt haben". In ihrem Buch "Nymphomanie. Die Geschichte einer Obsession" zeigt sie, dass übersteigerte Lust von Frauen lange als Krankheit galt. Im 18. und 19. Jahrhundert des sich emanzipierenden Bürgertums war Nymphomanie das Moral-Thema Nummer eins. Die Frauen selbst hielten sich für erlösungsbedürftig und gaben medizinischen Praktiken wie Ätzen der Vagina, Eisbeutelkuren und strengen Diäten, selbst operativen Entfernungen von Eierstöcken oder Klitoris sogar freiwillig nach. Oder sie ließen sich für schwachsinnig erklären, denn Nymphomanie rangierte neben Homosexualität lange Zeit als Perversion. Geile Frauen, Lesben und Prostituierte zählten zum Abschaum der Gesellschaft. Allen anderen stand das Ideal der Ehe zur Verfügung, in der sie als "geschlechtsloser Engel das männliche Begehren zu zügeln hatte".

Natürlich haben Frauen und ihre Kunstproduktion mit diesen Sanktionen und gesellschaftlichen Normen nichts mehr zu tun. Zum Glück. Aber immer noch rätseln Frauen und Männer über weibliche Sexualität. Sigmund Freud stellte kühn einen Zusammenhang von Sexbesessenheit und Frigidität her. Grundlage dafür: die Unterscheidung in vaginalen und klitoralen Orgasmus. In der Entwicklung eines Mädchens zur Frau gehe, so seine Theorie, das Zentrum sexueller Erregbarkeit von der Klitoris auf die Vagina über. Freud wertete es als Zeichen der Unreife, "wenn die Klitoriszone ihre Erregbarkeit abzugeben sich weigert". Wieso macht das keine der spitzen Französinnen zum Thema? Die Vagina als Ort der Verweigerung. Das Eingemachte weiblicher Sexualität beschränkt sich stattdessen auf die üblich abgelichteten Arten und Abarten sexueller Praxis, zum Beispiel darauf, ob einer sie "anscheißen darf oder nicht" (Millet). "Anscheißen" ist meist Sache der Frauen, auch wenn die Autorin das sicher nicht im doppelten Sinne des Wortes gemeint hat, denn es geht um eine Fäkalszene. Die Frau, nicht der Mann kann darüber hinwegtäuschen, ob sie nun gekommen ist oder nicht. Sie kann so tun als ob. Sie bleibt freudlos - und nach endlosen Versuchen, doch Befriedigung zu finden, empfindet sie nicht einmal mehr Schmerz. Auch die Frauen in "Bais-mois" von Despentes zeigen nicht wirklich, dass sie eigentlich unbefriedigt und traurig sind, dass ihnen etwas nicht passt. Innen oder außen. Sei es Liebe oder Sex. Daher ihre Unersättlichkeit, ihre Gier zu verführen, um zu töten. "Ihre Vagina ist im Wesentlichen nichts anderes als ein Mund", zitiert Carol Groneman in ihrer Untersuchung den Analytiker Otto Fenichel. Gemeint ist der Hunger der Nymphomanin, der sich nicht stillen lässt. Ob das nun am "unreifen" Klitoralorgasmus lag oder nicht. Spätestens mit dem Kinsey-Report ist die ganze Vagina-Klitoral-Orgasmus-Debatte zuende, denn die Forscher erklären, dass der Vaginalorgasmus der Frau physiologischer Unsinn ist, dokumentiert Groneman. Und jede Frau kann es sich ja auch ohne ihn, den "Schwanz", selbst besorgen.

Im Rückblick auf die Nymphengeschichten und den phallischen Auftritten von Millet, Despentes oder Breillart aber kommen darüber neue Zweifel auf. Wer das typisch männermordende Gehabe und die Verwandlungssehnsucht in Männlichkeit nicht ablegt, bleibt auf der Strecke - wird lustlos, gemein, obszön. Und wenn dann noch Kunst und Leben zusammenfließen, sogar langweilig privat. Als männlich/weibliche, weiblich/tierische Mischwesen den mythischen Nymphen gleich, plädieren die berühmten Französinnen für abgespaltene Lust. Sie teilen ihren Körper einfach in oben und unten und lassen sich durchziehen. "Nur mein Bauch und meine Beine schauen heraus, und die Bauarbeiter, die traubenweise kommen, beackern mich, ohne daß sie mich sehen und ohne daß ich sie sehe". Das spielt sich in einer Baubaracke ab. Eine Szene aus "La vie sexuelle de Catherine M". "Die Arbeiter glitten zu Hunderten über mich und bezahlten fünf Francs für den Fick". Und schließlich klärt die Autorin ihren Wunsch auf: "Ich hätte gern absolute Schwärze, weil es mir Lust machen würde, in einer Masse undifferenzierten Fleisches aufzugehen". Absolute Schwärze, das ist das Bild für den gefühllosen Exhibitionismus von Frauen, die das Ende des Begehrens einläuten. "Fick mich" wird zu "Töte mich". Und das wäre wirklich das Ende des Genusses, der Ästhetik und der Frau gleichzeitig, die sich in Nymphen-Posen über sexuelle Selbstmorde erschöpft.

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Catherine Millet: Das sexuelle Leben der Catherine M.
Übersetzt aus dem Französischen von Gaby Wurster.
Goldmann Verlag, München 2001.
284 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3442309646

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Carol Groneman: Nymphomanie. Die Geschichte einer Obsession.
Übersetzt aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher und Rita Seuß.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
238 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3593366622

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Virginie Despentes: Baise-moi - Fick mich. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Kerstin Krolak und Jochen Schwarzer.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
224 Seiten, 7,50 EUR.
ISBN-10: 3499231352

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