Schleusenwärter im Nachrichtenstrom

17 Fallstudien über journalistische Schreibprozesse

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine vorderhand alberne, bei eingehendem Studium indes wahrhaft hintergründige Scherzfrage medienreflexiven Formats lautet: Wie kommt es eigentlich, dass jeden Tag gerade so viel in der Welt passiert, dass es genau in die Zeitung passt? Anders: Wie hätten die Nachrichten des 11. September ausgesehen, hätte es den 11. September nicht gegeben? Journalisten müssen Prioritäten setzen und zwar meist unter gehörigem Zeitdruck. Sie sind Schleusenwärter im reißenden Nachrichtenstrom, die entscheiden, welche Nachricht ins Blatt kommt oder welcher Beitrag auf Sendung geht.

Der Schweizer Schreibprozessforscher und Schreibcoach Daniel Perrin besuchte 17 Nachrichtenjournalisten an ihrem Arbeitsplatz, um sie über ihr Selbstverständnis als Schleusenwärter auszufragen und ihre Schreibprozesse zu protokollieren. Solche Schreibprozessprotokolle lesen sich zwar recht mühsam ("Isol7 [ation]7 |8 8{10[iermatten]10|11}8..."[sic!]), bieten jedoch interessante Einblicke in die Art und Weise, wie Journalisten ihre Beiträge anfertigen. Niemand hat den fertigen Beitrag wortwörtlich im Kopf, oft steht ein Gedanke, ein Wort am Anfang, aus dem sich das Folgende dann sukzessive ergibt. Je nachdem, ob Profis oder Novizen am Werk sind, lassen sich anhand derartiger Protokolle bestimmte Repertoires an Schreibstrategien ausmachen. Perrins naheliegende Hypothese geht davon aus, dass die alten Hasen und Routiniers naturgemäß strategischer vorgehen, als schreibende Neulinge. "Anfänger fertigen Texte, Erfahrene steuern Prozesse".

Der modernen Technik ist eine Methode zu verdanken, die diese Hypothese verifizieren soll. Ein Programm, das unbemerkt im Hintergrund einer Textverarbeitungssoftware läuft, zeichnet alle Maus- und Cursorbewegungen des Schreibenden auf. Dem Journalisten wird nach Fertigstellung seines Textes schließlich dieses persönliche Prozessfile vorgespielt, und er kommentiert verbal seine Arbeitsschritte. Solche im Nachhinein formulierten Profile von Schreibstrategien lassen sich dagegen nicht verifizieren und somit kann das Repertoire der tatsächlich angewandten Strategien auch zweifelsfrei offengelegt werden. Das gleiche gilt für die Prozesse, die vor der Verschriftlichung ablaufen; es fehlt einfach ein Programm, mit dem sich Denkprozesse aufzeichnen lassen.

Daniel Perrin weist ausdrücklich auf diese methodischen Defizite seiner Arbeit hin, die sich wohl kaum ausräumen lassen. Seine Ausgangshypothese wird zwar erwartungsgemäß bestätigt, da es sich aber bei den 17 Fallstudien um ein nicht-repräsentatives Sample handelt, müssen auch hier Bedenken angemeldet werden. Aber es geht dem stark praxisorientierten Autor nicht um die Anfertigung einer wissenschaftlich akkuraten Studie, sondern eher um die Auswertung qualitativ ergiebigen Datenmaterials, das einen Brückenschlag von der Theorie zur Praxis ermöglichen soll. Und so werden unter schmackhaften Überschriften wie "Die Antipasti-Technik" praktische Arbeitstechniken vorgestellt, die für alle Schreibenden gewinnbringend sein können. Solche am tatsächlichen Arbeitsalltag orientierten Organisationstips sind mit Sicherheit weitaus wertvoller als die klassischen, aber unbrauchbaren Ratschläge der Sorte: "Schreiben Sie originell und denken Sie immer an ihre Leser."

Dem Buch ist freundlicherweise eine CD-ROM beigelegt, auf der sämtliches Datenmaterial der 17 Fallstudien eingesehen werden kann. Das signalisiert den Willen zur Transparenz, dürfte für die meisten Leser aber nicht mehr als eine recht langweilige und im Gegensatz zum Buch auch unnütze Spielerei darstellen.

Titelbild

Daniel Perrin: Wie Journalisten schreiben. Ergebnisse angewandter Schreibprozressforschung inkl. CD-ROM mit Fallstudien aus Presse, Radio, TV und Internet.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2001.
152 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3896693433

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