Streifzug durch das literarische Berlin

Silvio Vietta lädt zu einem Rundgang ein

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie kaum eine andere Hauptstadt Europas wurde Berlin durch die jüngste Geschichte schwer gezeichnet. Das spiegelt sich auch in der hier entstandenen Literatur wider. Viele Zeitströmungen kann man mit Hilfe der Literatur gut verfolgen: den Aufbruch ins 20. Jahrhundert im Lebensgefühl der expressionistischen Autoren, die Erfahrung des Ersten Weltkrieges, das veränderte Lebensgefühl und die neuen Medien in den 20er Jahren, die Hoffnungen und Verzweiflungen in der stark angewachsenen und als "Moloch" erfahrenen Stadt, die Machtübernahme der Nazis, den Zweiten Weltkrieg mit all seinen Folgen, Deutschlands Teilung bis hin zum Neuanfang nach dem Fall der Mauer, den Neuanfang, der in einer Mischung von Aufbruchseuphorie und Ratlosigkeit das Lebensgefühl vieler Autoren prägt.

Das alles erfährt man aus dem adrett aufgemachten Band über das literarische Berlin. Silvio Viettas Streifzug gerät dabei zu einem Erinnerungsspaziergang durch die Erfahrungsräume und Lebensformen dieser Stadt im 20. Jahrhundert - bis an die Schwelle unserer Gegenwart.

Doch zuvor gibt der Herausgeber einen kurzen Überblick über die gesamte Geschichte des literarischen Berlin. Diese beginnt um 1643 mit der Ankunft von Paul Gerhardt, des bedeutenden Dichters evangelischer Kirchenlieder, als Hauslehrer in Deutschlands künftiger Haupstadt. Zur eigentlichen Gründungsepoche einer eigenständigen Literatur und Kultur wird in Berlin die europäische Aufklärung. Bereits 1700 rief Kurfürst Friedrich III. auf Anraten des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz eine gelehrte Gesellschaft ins Leben, die 1711 den Namen "Akademie der Wissenschaften" erhielt.

Bald darauf kristallisierte sich die Stadtkultur der Aufklärung durch das Berliner Bürgertum heraus, dem viele Juden angehörten. Drei Männer standen im Zentrum: der 1733 in Berlin geborene Buchhändler Christoph Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing. Auch die nächste literarische Bewegung, die Romantik, nahm in Berlin mit den beiden Dichtern Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck ihren Ausgang. Literatur und Kunst werden nun zum wichtigsten Medium menschlicher Kommunikation. Mit Goethe und der Romantik hebt die von Heinrich Heine so genannte "Kunstperiode" an, ferner die Blütezeit der literarischen Salons, die zugleich eine neue Epoche zwischenmenschlicher Geselligkeit einläuten, in der der deutschen Literatursprache ein Durchbruch gelingt - mit Goethe als Maßstab.

Im 19. Jahrhundert wächst die literarische Produktion der Stadt machtvoll an. Zu den herausragenden Schriftstellern und Werken gehören Wilhelm Raabe und seine "Chronik der Sperlingsgasse" von 1857, die sozialistisch gesinnten naturalistischen Dichter um die Brüder Heinrich und Julius Hart im Stadtteil Friedrichshagen, außerdem Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind, Richard Dehmel und August Strindberg.

Die andere große Berliner literarische Gestalt des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist zweifellos Theodor Fontane. Mit ihm und dem Naturalismus ist die Schwelle zum vorigen Jahrhundert erreicht. Hier setzt das Buch mit seinem eigentlichen Thema ein: das literarische Berlin des 20. Jahrhunderts.

Silvio Vietta stellt die wichtigsten Schriftsteller und Strömungen in einer themenbezogenen Gliederung vor. Die einzelnen Kapitel führen mit der Darstellung von Autoren und Werken auch in die jeweils charakteristischen politischen und zeitgeschichtlichen Zusammenhänge ein. Den Beginn macht der expressionistische "Sturm", mit dem Dichter-Arzt Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler und den wichtigsten literarischen Cafés: dem Café des Westens, dem Romanischen Café und dem Café Josty. In der Epoche des Dadaismus in Berlin flaniert Vietta auf den Spuren von Franz Hessel und Walter Benjamin durch Berlin. Es folgen Kapitel über Joachim Ringelnatz - ein Bild zeigt den Dichter in der Rolle des "Kuttel Daddeldu" -, über den politischen Journalisten Kurt Tucholsky, der sich nicht weniger als vier Pseudonyme zulegte. Kurz wird Tucholskys literarisches und journalistisches Schaffen bis zum Ersten Weltkrieg beleuchtet.

In Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz" wiederum sind die 20er Jahre in Berlin in ihrer ganzen Vielfalt und Brüchigkeit auf dicht gedrängtem Raum eingefangen, allerdings aus der Perspektive der Verlierer, ebenso in Irmgard Keuns "Das kunstseidene Mädchen".

Unter dem Titel "Verbrannt und verboten" nimmt der Verfasser das Leben Erich Kästners im Berlin der Nazizeit - Kästner ging bekanntlich in die "innere Emigration" - ins Visier. Das Berlin der Nachkriegszeit wird aus der Perspektive Ost und der Perspektive West, die jeweils von Christa Wolf und Uwe Johnson verkörpert werden, rekonstruiert.

Nach dem Fall der Mauer und dem Regierungsumzug wurde in den 90er Jahren Berlin Bauplatz und Schauplatz zugleich. Nicht nur die Baubranche profitiert von den stetigen Bedürfnissen der Stadt nach Bewegung und Veränderung. Auch das literarische Schaffen boomt. So erlebt die Berliner Verlagslandschaft gegenwärtig eine wahre Blütezeit, während bei den Autoren, sowohl bei den etablierten Schriftstellern als auch bei dem schriftstellerischen Nachwuchs, das Berlin der Nachwendezeit immer wieder Ort und Thema des Schreibens wird. In diesem Zusammenhang werden vor allem die Namen Jens Sparschuh, Durs Grünbein, Pieke Biermann und Richard Wagner erwähnt.

Der letzte Abschnitt vermittelt unter dem Stichwort "Literarische Treffpunkte in Berlin heute" aktuelle Informationen zu literarischen Institutionen, literarischen Salons, Bibliotheken, Lesecafés, Literaturführungen in Berlin und zum literarischen Berlin im Internet.

Nicht nur Berliner und Berlin-Besucher, auch viele Literaturfreunde dürfte das gut gestaltete Buch mit seinen vielen nützlichen Anmerkungen erfreuen.

Titelbild

Silvio Vietta (Hg.): Das literarische Berlin im 20. Jahrhundert. Mit aktuellen Adressen und Informationen.
Reclam Verlag, Stuttgart 2001.
275 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3150104815

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