Vom Sein und vom Aufbrechen

Altbundespräsident Richard von Weizsäcker zeigt sich als hellsichtiger Analytiker

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die noch junge Geschichte der Bundesrepublik ist seit ihrem Beginn im Jahr 1949 eines der Kernfelder politik- wie geschichtswissenschaftlicher Forschung. Wie konnte das "Dritte Reich" entstehen, und welche Lehren sind nach 1945 in der Bonner und Berliner Republik aus den Gräueln des Totalitarismus gezogen worden?

Nun hat sich auch eine der wohl bedeutsamsten Persönlichkeiten und prägenden Figuren der Bonner Republik - der ehemalige Bürgermeister von Berlin und langjährige Bundespräsident Richard von Weizsäcker - in seinem neuen Buch "Drei Mal Stunde Null? 1949-1969-1989" über die jüngste Geschichte Gedanken gemacht. Von Weizsäcker resümiert die Geschichte Deutschlands von der Entstehung des Nationalstaats über das Scheitern der Weimarer Republik bis zur Gründung der Bundesrepublik. Er spricht Versäumnisse und Leistungen vor und nach 1949 an; und er lässt es bei seinen Betrachtungen auch nicht an perspektivischen Zukunftsaussagen fehlen, die über den Tellerrand des Gewesenen hinausblicken.

Also nur noch eine weitere Neuerscheinung auf dem Gebiet der jüngsten Politikgeschichte, die nichts Neues zu sagen hat? Richard von Weizsäcker ist es in seinem Buch vor allem um den Nullpunkt zu tun. Immer wieder, so Weizsäcker, "ist von einer Stunde Null die Rede, weil sie von uns Menschen im Leben und Zusammenleben so empfunden wird. Es kann so tiefe Abstürze oder einen so radikal neuen Anfang geben, dass wir keine Orientierung vorfinden oder dass wir sie neu schaffen müssen und wollen". Der Altbundespräsident untersucht in seinem Buch die drei "Nullpunkte" der jüngsten deutschen Geschichte: die Gründung der Bundesrepublik 1949, das Jahr 1969 als Machtwechsel zur sozialliberalen Koalition und die Zeit der 68er-Bewegung sowie das Jahr 1989, in dem die beiden deutschen Staaten nach 40 Jahren wieder vereint wurden. Bei den "Nullpunkten" von 1949 und 1989 ist eine solche Bezeichnung in der Tat stimmig - sie waren umwälzende Brüche mit der Vergangenheit und führten Deutschland jeweils auf eine andere Bahn. Beim Jahr 1969 indes wirkt die Bezeichnung des "Nullpunkts" zu forciert - wohl des Buchtitels und des dramaturgischen Aufbaus wegen. Weizsäcker selbst gibt diesen schöpferischen Kniff zu und spricht von 1969 als "etwas wie einer Halbzeit des westdeutschen Staates" - dabei gesteht er ein: "Für die Demokratie im Innern war es ein Datum von großem und bleibendem Gewicht, aber beileibe keine Stunde Null. Die Verfassungsordnung hatte sich bewährt. [...] Wir korrigieren einander und arbeiten doch stets mit den guten und schlechten Erbschaften unserer Vorgänger weiter." Kontinuitäten und Brüche mit der Vergangenheit sind für Weizsäcker deshalb von so großer Bedeutung, weil er anhand ihrer Aufdeckung die gezogenen wie nicht gezogenen Lehren aus dem Gewesenen benennt; kein Mensch, so zeigt von Weizsäcker, lebt ohne das Gewesene, lebt ohne Erinnerung und Verantwortung. Ein Nationalstaat, so von Weizsäckers Glaube, braucht ein "verständiges Selbstbewusstsein und eine vernünftige Selbstsicherheit" für seine verantwortliche Existenz. Unter diesem Gesichtspunkt will der Ex-Bundespräsident die Betrachtung von Kontinuitäten wie Diskontinuitäten der jüngeren deutschen Geschichte auch verstanden wissen: Das Urteil über die Bedeutung der Vergangenheit und deren Einflussnahme auf die Gegenwart ist seinem Denken nach immer wieder von Bedeutung, weil es sich im Wandel der jeweiligen Gesellschafts- und Machtverhältnisse ständig revidiert.

Dieser Punkt führt in Weizsäckers Buch zu einem weiteren, weitaus praktischeren Element: der Politikkritik. Der Ex-Politiker bleibt bei seinen Überlegungen nicht auf staats- und gesellschaftstheoretischen Ebene stehen, sondern weitet seine Argumentation auch auf aktuelle Fragen der Parteienpolitik aus. Und da ist es eben jene ständig zu hinterfragende, kritische Einschätzung von Kontinuitäten und Brüchen mit der Vergangenheit, die von Weizsäcker in Bezug auf die Parteien umtreibt: Jene, so sein Urteil, benutzen allzu häufig längst überholte Paradigma vergangener Zeiten, um ihre Gegner zu diskreditieren. Als Beispiel führt er den vor allem von der Union ins Spiel gebrachten Vorwurf des Vaterlandverrats der SPD (siehe Bismarcks Titulierung der SPD als "Reichsfeinde") ebenso ins Feld wie die seiner Ansicht nach nüchtern zu beurteilende Beteiligung der PDS an Regierungskoalitionen. An diesen Stellen zeigt sich die Konzeption des Buchs am stärksten: Weizsäcker erläutert, wie im Umgang mit der PDS die Kontinuität aus der Vergangenheit gebrochen werden müsste - nämlich jene, die PDS aufgrund ihrer SED-Geschichte völlig zu ignorieren. Wie, so des Staatsmanns berechtigte Frage, hätte die Parteienlandschaft nach 1945 ausgesehen, hätte man alle in irgendeiner Weise mit der NSDAP in Verbindung gebrachten Politiker ausgegrenzt? Weder CDU noch SPD wären in einem solchen Falle wohl zu Volksparteien geworden. Habe man damals einen Bruch mit der Vergangenheit gewagt, so Weizsäcker, so müsse man einen solchen auch jetzt wagen. Und nur am Rande weist der Altbundespräsident fast süffisant darauf hin, dass sich eklatant viele Größen aus Wirtschaft und Politik schon in den Gründungsjahren der Bonner Republik aus ehemaligen Parteikadern rekrutierten - eine Entnazifizierung also, die nur teilweise stattgefunden hat.

Weizsäckers grundlegende Kritik am heutigen Parteienstaat zielt auf die Rolle der Politik im Medienzeitalter: "Unter dem Einfluss verführerischer Angebote für die Fun-Gesellschaft orientieren sich die Argumente oft weniger an den Problemen als an der Kurzweil von Quiz und Kampf, von Schlagfertigkeit und geschlossen Toren. [...] Es herrscht einiges Misstrauen und Desinteresse an der Grundidee einer Republik, an öffentlichen Sachen, am politischen System, an der Demokratie." Weizsäckers Argumentation macht in ihrer Schärfe und Klarheit deutlich, dass die Furcht vor einer gänzlich entpolitisierten und damit willfährigen Gesellschaft so abwegig nicht ist: "Wer anfängt, daran zu glauben, dass wir die Dinge ohnehin nur allein schaffen, dagegen nicht gemeinsam, für den gehören Politik und Zukunft nicht mehr zusammen. Der baut an einer transpolitischen Cyberwelt."

Weizsäckers Denkrichtungen sind in der Folge sehr deutlich: Mehr Teilnahme der Bürger an der Demokratie, aller durch Parteipolitik und Machtgestus geförderten Zweifel an den Herrschenden zum Trotz; und vor allem eine in noch höherem Maße geförderte politische Bildung der Bürger zu eigenständigen, aktiven und kritischen Staatsbürgern. Eine richtige und notwendige Folgerung Weizsäckers, denn in der Tat kann das Volk nur dann seine Rechte erhalten und seine Pflichten erfüllen, wenn es zu einem wirklichen Souverän des Staates geworden ist.

Bei aller Kritik am modernen deutschen Staatswesen blickt von Weizsäcker dennoch mit Zuversicht in die Zukunft. Er ist der Überzeugung, dass Deutschland seine nach 1989 neu entstandene Rolle in Europa und der Welt ausfüllen können wird. Vor allem auf das Gelingen der Europäischen Union mit einem Wirtschaftsraum von über 500 Millionen Menschen setzt der Staatsmann seine Hoffnungen: "Ganz allmählich werden wir lernen, als Europäer in der Welt von morgen mit einer Stimme zu sprechen. Das ist es, was unsere eigenen Interessen der Selbstbestimmung erfordern".

Dieser Vision ist nur eines hinzuzufügen: Es ist Deutschen wie Europäern zu wünschen, dass auch in Zukunft Politiker vom Schlage eines Richard von Weizsäcker das schwindende Vertrauen in die Kraft der Demokratie werden erhalten können.

Titelbild

Richard von Weizsäcker: Drei Mal Stunde Null? 1949-1969-1989.
Siedler Verlag, Berlin 2001.
256 Seiten, 19,56 EUR.
ISBN-10: 3886807320

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