"Von dem Genusse der bürgerlichen Rechte"

Napoleons Gesetzbuch von 1808 neu aufgelegt

Von Felix SaureRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Saure

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich mache mir nichts aus diesen Windbeuteln von Franzosen, aber in all ihrem dummen Zeug steckt immer eine Prise Wahrheit. Mit ihrer Brüderlichkeit wird es nicht viel werden, und mit der Freiheit auch nicht; aber mit dem, was sie dazwischengestellt haben, hat es was auf sich." So resümiert der spätabsolutistische Offizier Bamme in Fontanes "Vor dem Sturm" den ideologischen Einfluss der Französischen Revolution. Im "Winter 1812 auf 13", so der Untertitel des Romans, hatte sich das Blatt für Napoleon schon gewendet. Das Desaster des russischen Feldzugs bereitete die weitere militärische Niederlage vor.

Die Epoche Napoleons lässt sich aber nicht allein durch militärische Unternehmungen definieren, sondern gerade auch durch zivile Projekte. Deren eindrucksvollstes und langlebigstes ist sicherlich der Code Napoléon. Der aber bezieht seine besondere Stellung aus dem, was die Franzosen zwischen Freiheit und Brüderlichkeit gestellt hatten - der Gleichheit. Dabei war Gleichheit zum einen die Gleichheit der Personen vor dem Gesetz. Der Code Napoléon ist ein bürgerliches Gesetzbuch, seine insgesamt 2281 Artikel sollten Anwendung auf alle Bürger des Landes finden und die hergebrachten Rechtsunterschiede der Stände weitgehend auflösen. Zum anderen bedeutete "Gleichheit" die Vereinheitlichung des Rechtssystems im ganzen Land. Denn im vorrevolutionären Frankreich war es notwendig, bei Reisen Rechtssysteme so oft wie Pferde zu wechseln, hatte noch Voltaire kritisch angemerkt. Jetzt sollte ein Gesetzbuch für das gesamte Herrschaftsgebiet gelten.

Während der napoleonischen Eroberungen wurde der Code Napoléon auch in Gebieten des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eingeführt. Am Horizont sah Napoleon ein einheitliches Rechtssystem für ganz Europa, die Einführung des Code Napoléon sollte ein Element der "moralischen Eroberung" von militärisch besiegten Gebieten sein. Verbunden damit inszenierte sich Napoléon auf diese Weise auch in der Nachfolge des römischen Kaisers Justinian, des Schöpfers des Codex Justinianus. Eingerechnet die zeitgenössischen Verzögerungen - von der Residenzstadt Kassel bis zum Harz-Departement zwei, bis zum Elbe-Departement fünf Tage - , trat der Code Napoléon am 1. Januar 1808 auch im Königreich Westphalen in Kraft. Die Bedingungen für die Rechtsreform waren hier günstig: Der neue Satellitenstaat stand unter der Herrschaft von Napoleons Bruder Jérôme. Ende 1807 hatte Napoleon dem Königreich eine moderne Konstitution verliehen, die die Struktur des französischen Verfassungssystems abbildete. Das Königreich sollte nicht zuletzt als Vorbild für die übrigen Rheinbundstaaten dienen.

Die juristischen Zustände im neugeschaffenen Königreich Westphalen waren mindestens ebenso verworren wie im vorrevolutionären Frankreich. Regional unterschiedliche Systeme von Stadt-, Land- und gemeinem Recht auf der weltlichen Ebene konkurrierten mit dem kanonischen Recht der Kirche. Die syntaktische Komplexität der Aufhebungsklausel spiegelt die Verworren- und Verwobenheit der bisher geltenden Rechtssysteme wider: Mit der Einführung des Code sollten "die römischen, canonischen und ehemaligen teutschen Reichsgesetze, wie auch die besondern Gesetze und Verordnungen der Länder, aus welchen das Königreich besteht, ingleichen die allgemeinen oder örtlichen Observanzen und Gewohnheiten, Statuten und Vorschriften [...], in Ansehung derjenigen Gegenstände, worüber das Gesetzbuch Napoleons Verfügungen enthält, [aufhören,] die Kraft eines allgemeinen oder besondern Gesetzes zu haben".

Die in Straßburg veröffentlichte offizielle Ausgabe des Code Napoléon für das Königreich Westphalen aus dem Jahre 1808 ist jetzt vom Stroemfeld Verlag als Faksimile herausgegeben worden, ergänzt um ein Nachwort von Barbara Dölemeyer, Professorin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte. Vervollständigt wird der aufwendig ausgestattete Band durch eine CD-ROM. Der Datenträger enthält im zitierfähigen PDF-Format ein dreisprachig deutsch-französisch-lateinisches Sachregister, das 1808 zusammen mit dem Gesetzbuch erschien. Das ist begrüßenswert, ermöglicht es doch dem Leser den Zugriff auf ein hilfreiches Dokument, ohne dass ein aufwendiger Druck mitfinanziert werden muss.

Die vollständige Ausgabe des Gesetzestextes ist zweisprachig, den französischen Artikeln steht die zeitgenössische deutsche Übersetzung des kurhessischen Verwaltungsjuristen und Staatsmanns Burchard Wilhelm Pfeiffer gegenüber. Pfeiffer gilt als Frühliberaler und war ein Befürworter der Rechtskodifikation, er war zugleich ein Jugendfreund Savignys, des Begründers der historischen Rechtsschule. In seiner Übersetzung hat Pfeiffer lediglich wichtige Jahreszahlen geändert (z. B. Art. 427). Auf diese Weise rutscht aber auch ein Artikel in die deutsche Fassung, der spezifisch französisch ist. Er behandelt den Besitz eines Bürgers in den Kolonien (Art. 417). Das bleibt die Ausnahme - muss es qua Ideologie auch bleiben, denn der Code war kein beliebiges Gesetzbuch, sondern erhob den Anspruch universeller Gültigkeit, unabhängig von nationalen Besonderheiten und partikularen Standesinteressen.

Mit dem Code wurde das Ständesystem einer gründlichen Revision unterzogen. Die historisch gewachsenen, privaten Gesetze, die "Privilegien" des Adels wurden abgeschafft zugunsten der Idee von Rechtsgleichheit und allgemeinem Bürgerrecht. "Jeder Einländer (westphälische Unterthan) soll die bürgerlichen Rechte genießen" heißt es im Artikel 8 unter der Überschrift "Von dem Genusse der bürgerlichen Rechte". So ganz gleich waren die "westphälischen Unterthanen" dann aber doch nicht, bürgerliche Rechte der Frauen werden oft begrenzt (z. B. Art. 37, 108, 215ff, 1029).

Dennoch benutzte das liberale Bürgertum in ganz Europa den Code Napoléon als intellektuelle Munition, um seine Forderungen nach politischen Freiheiten deutlich zu machen. Von diesem Stand wurde die Einführung des Gesetzbuchs am stärksten gefordert. Zugleich beargwöhnte der dem alten Standesdenken verhaftete Adel die Einführung des neuen Rechtssystems. Viele der politischen Freiheiten wurden zwar bald wieder zurückgenommen, doch vollständig ließ sich der Einfluss der bürgerlicher Rechtsideen nicht mehr eliminieren.

Neben der politischen Gleichstellung wurden durch den Code Napoléon gleiche wirtschaftliche Betätigungsmöglichkeiten geschaffen: "Jeder, dem das Gesetz es nicht untersagt, kann kaufen oder verkaufen" (Art. 1594). Abgesehen von direkten bürgerlichen und politischen Rechten erhielt das Bürgertum damit eine noch viel schlagkräftigere Waffe in seinem Kampf um größeren Einfluss. Die Freiheit von Vertrag und Eigentum war die Vorbedingung der ökonomischen Expansion des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Ein einheitlicher Rechtsraum begünstigte Handel und Gewerbe. Die Ideen des Code Napoléon entsprachen damit den Bedürfnissen des dritten Standes in einer Zeit, als zunehmend ökonomische Leistungsfähigkeit politische Macht definierte, nicht aber die Standeszugehörigkeit.

Unfreie Bauern und gutsherrliches Gesinde wurden durch die Verfassung des Königreichs Westphalen vom Dezember 1807 frei. Der Artikel 13 lautet: "Alle Leibeigenschaft, von welcher Natur sie sein und wie sie heißen möge, ist aufgehoben, indem alle Einwohner des Königreichs die nämlichen Rechte genießen sollen." Ergänzend heißt es im Code Napoléon: "Man kann seine Dienste nur auf bestimmte Zeit, oder für eine bestimmte Unternehmung, verdingen" (Art. 1780). Ein königliches Dekret im Anhang von Napoleons Gesetzbuch stellt aber klar, dass die Rechte, die "in Abgaben und Verbindlichkeiten bestehen, die mit der Constitution verträglich und als Preis der Ueberlassung des nutzbaren Eigenthums (dominium utile) zu betrachten sind, namentlich: die Zinsen, Renten, Zehnten, Geld- und Naturalabgaben, ja selbst die Verbindlichkeit, für den bisherigen Herrn zu arbeiten und zu fahren" weiterhin bestehen. Zum Vergleich: In das berühmte und oft zitierte preußische Edikt zur Bauernbefreiung vom Oktober 1807, in dem der König verkündet hatte, vom Martinitage 1810 an gäbe es "nur freie Leute" in Preußen, war dieser Aspekt von vornherein integriert. Auch hier hieß es, dass "alle Verbindlichkeiten, die ihnen als freien Leuten vermöge des Besitzes eines Grundstückes oder vermöge eines besonderen Vertrages obliegen, in Kraft bleiben". Die abgeschaffte juristische Unterordnung wurde zumeist durch eine finanzielle Abhängigkeit ersetzt - der Preis der rechtlich gleichen Gesellschaft war eine ökonomisch differenzierte Öffentlichkeit.

An dem Punkt setzte dann aber auch massive Kritik ein. Insbesondere in der Geschichtstheorie der deutschen Romantik wurde ein System, das einen vermeintlich organischen Gesellschaftsaufbau zugunsten eines abstrakt-funktionalen Zusammenhangs beendete, als unnatürlicher Eingriff in die historische Entwicklung angesehen. Dabei ist der Code Napoléon kein Gesetzbuch, das nur im ahistorischen Raum abstrakter Normen verfasst wurde. Vielmehr ist das Gesetzbuch ein Kompromiss, der moderne Naturrechtsideen mit den historischen Rechtssystemen Frankreichs - dem germanischen Gewohnheitsrecht des Nordens und dem römischen Recht des Südens -, vereint.

Dieser Kompromisscharakter und die Vorgeschichte des Code Napoléon werden im Nachwort leider nur kurz gestreift. Dafür konturiert Barbara Dölemeyer überzeugend und auch für jeden Nichtjuristen lesenswert die Einführung und Wirkung des Gesetzbuches in Deutschland. Die Debatte war keinesfalls eine juristische Fachdiskussion, vielmehr eine grundlegende Auseinandersetzung, und die war "öffentlich, ausführlich, z. T. sehr heftig und gelegentlich von persönlichen Angriffen der Herren Kontrahenten begleitet". Schon die Titel der Zeitschriften, in denen in Deutschland diskutiert und polemisiert wurde, verweisen auf den fundamentalen Charakter des Konflikts. Da tauchen "Der Rheinische Bund" ebenso auf wie "Germanien" und die "Europäischen Annalen". Auch in den Tagebüchern Goethes findet sich unter dem 23. November 1807 der Eintrag "Discours über den Code Napoléon" und "Mit Seidensticker über den Code Napoléon und über die neuern Verhältnisse des Staatsrechts zum Civilrechte [diskutiert]".

Die Frage, ob das Recht sich als Ausdruck einer als organisch begriffenen Kultur eines Volkes im Gewohnheitsrecht manifestiert, oder ob ein positives Recht allgemeingültig kodifiert sein sollte, bestimmte den Diskurs. Zur Diskussion stand die Wirkmächtigkeit abstrakt-universeller Normen, wie sie Naturrechtsvertreter formuliert hatten, gegen die Forderung nach der historischen und nationalkulturellen Anbindung der Gesetze.

In Baden etwa war der Code Napoléon durch einige Hundert Angleichungen an die lokalen Rechtsverhältnisse angepasst worden, auch hatte hier die deutsche Fassung alleinige Gesetzeskraft. Auf die Weise entstand im Südwesten Deutschlands ein Tochterrecht des Code, das als eigenständige Schöpfung ab 1810 für das neu geschaffene Königreich Baden galt. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts galt der so modifizierte Code Napoléon als Badisches Landrecht. Er überstand so auch die Bücherverbrennungen, für die sich der Code Napoléon nach 1813 qualifizierte. Jetzt galt er vielen Deutschen als "Plunder der Hölle" und "französischer Unrat". Davon wollte man Deutschland säubern, die moralische Eroberung durch die Franzosen rückgängig machen. Die Auseinandersetzung über die Notwendigkeit eines allgemeinen kodifizierten Rechts war aber auch nach Napoleons Sturz nicht zu Ende. Sie kulminierte im sogenannten Kodifikationsstreit, in dem sich ab 1814 die juristischen Eliten um Savigny bzw. Thibaut gruppierten.

Allerdings vermisst der kultur- und mentalitätsgeschichtlich orientierte Leser im Nachwort Hinweise auf den weiteren ideengeschichtlichen Kontext. Für diese Lesergruppe wären einige Hinweise zur Vorgeschichte des Code Napoléon wünschenswert - und auch die Erwähnung der anderen zeitgenössischen Gesetzgebungsprojekte. Dazu gehören die Virginia Bill of Rights aus dem Jahre 1776 ebenso wie das Vereinheitlichungsprojekt des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794 und die Gesetze der Preußischen Reformen.

Zur Zeit der Diskussion um den Code Napoléon waren zudem ganz ähnliche Diskurse auch in anderen Kulturbereichen wirksam. So die Frage, ob sich Kunst an einer Ästhetik zu bilden habe, die durch überzeitlich gültige universelle Normen bestimmt werde, oder ob Kunst die Fortschreibung einer spezifisch nationalen Geschichte sein solle. Die religiösen Bilder des Mittelalters und die Architektur altfränkischer Städte standen hier gegen die weißen Marmorstatuen der Klassizisten. Auch bezogen sich die Anfänge der literaturwissenschaftlichen Germanistik mit den Volksliedprojekten der Grimms, Arnim und Brentanos auf die Kultur und die Historie, um eine kollektive nationale Identität zu formulieren. Genau das tat aber auch die historische Rechtsschule in Abgrenzung gegen die als universell-abstrakt und damit als unorganisch angesehenen Projekte eines modernen, vereinheitlichten Rechtssystems. Zumindest ein bibliographischer Hinweis etwa auf die Untersuchung Theodore Ziolkowskis zum Rechtssystem als einer Institution romantischer Ideengeschichte wäre hier für die weitere Einordnung des Streits um die Einführung des Code Napoléon hilfreich gewesen. So vergibt das Nachwort ein wenig die Chance, noch deutlicher zu machen, dass die Edition keineswegs nur als Zierde für den juristischen Bücherschrank gedacht ist, sondern dass das Gesetzeswerk ein wichtiges Dokument europäischer Ideen- und Kulturgeschichte um 1800 ist. Dennoch bleibt das Werk uneingeschränkt empfehlenswert für jeden, der sich mit der Zeit um 1800 beschäftigt.

Titelbild

Code Napoléon - Napoleons Gesetzbuch. Francais-deutsch. Faksimile-Nachdruck der Ausgabe Straßburg 1808. Mit CD-ROM. Mit einem Nachwort von Barbara Dölemeyer.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
1107 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3878775733

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