Tod und Textverderbnis

Einblicke in die literarische Kriegsberichterstattung anlässlich der Neuedition von Alfred Döblins Wallenstein-Roman

Von Thomas LehrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Lehr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man unterschied "Politiker" von "Extremisten". Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion geriet leicht zum tödlichen Verhängnis. Ganze Länder wurden von der Glaubensspaltung zerrissen. Zwielichtige Unternehmer und undurchsichtige Finanziers unterstützen einmal diese, einmal jene Partei. Eine Unzahl skrupelloser Warlords, entlaufene Söldner und Banden von Desperados mordeten und plünderten. Ausländische Mächte steuerten die innenpolitischen Entscheidungen. Multinationale Eingreiftruppen mit unklaren Plänen richteten stets mehr Schaden an als sie zu nützen vorgaben. Der Krieg fraß die Steuergelder, zerstörte die Wirtschaft, dezimierte erbarmungslos die Bevölkerung. Und er schien um so weniger ein Ende finden zu wollen, je länger er dauerte.

Das Afghanistan, von dem hier die Rede ist, lag einmal mitten in Europa. 30 Jahre lang, zwischen 1618 und 1648, waren Deutschland, das heutige Tschechien und Österreich die bevorzugten Schauplätze eines Krieges, an dessen Ausgang man - wie die kommenden Kriege zeigen würden - noch viel mehr hätte lernen müssen als man gelernt hatte. Aber wenigstens hatte zwischen Katholiken und Protestanten die religiöse Zuordnung als Vorwand für Krieg und Mord weitgehend ausgedient, und die Stärkung der meisten europäischen Nationalstaaten war unter dem Aspekt der Säkularisierung und des Gewaltenmonopols zunächst einmal segensreich. Für Deutschland prägten die Resultate des Westfälischen Friedens Jahrhunderte lang das Tableau. Das Gespenst des Heiligen Römischen Reiches hatte sich im Rauch über den unerträglichen Menschenopfern weitgehend aufgelöst. Die erste deutliche politische Trennung von Österreich war erfolgt und durch das Zerbrechen der Habsburger Vorherrschaft in Deutschland auch jegliche Zentralgewalt beseitigt, mit der Folge einer politischen Ohnmacht, die einmal in furchtbaren Größenwahn, und einer heillosen Kleinstaaterei, die einmal in vorteilhaften Föderalismus umschlagen würde.

Angesichts dieser historischen Tiefenwirkungen erübrigt sich eigentlich auch noch heute die Frage, die sich Alfred Döblin mitten im Ersten Weltkrieg, während seiner Militärarzttätigkeit im Elsaß und in Lothringen stellte und noch einmal in einem späteren Aufsatz, im Rückblick auf seinen zwischen 1916 und 1919 geschriebenen Wallenstein-Roman: "Man fragt, wen kümmert der Dreißigjährige Krieg? Ganz meine Meinung. Ich habe mich bisher auch nicht um ihn gekümmert." Der heutige Leser wird wohl darüber hinaus noch Fragen haben. Etwa weshalb er sich, wenn er sich schon mit jenem Krieg beschäftigt, vorwiegend mit Wallenstein beschäftigen soll, wenn schon mit Wallenstein, weshalb dann mit dem Döblinschen, und wenn schon mit Döblin, weshalb dann mit der nun im Walter Verlag erschienen nicht gerade preiswerten neuen Edition, die der Schweizer Germanist Erwin Kobel erarbeitet hat?

Um den sich vor den mächtigen Historienschinken zum Thema eher vegetarisch fühlenden und vorwiegend literarisch Interessierten entgegenzukommmen, lässt man sich gerne versuchen, nur die markantesten und kunstvollsten Arbeiten zum Dreißigjährigen Krieg in Erwägung zu ziehen. Reduziert auch noch auf die deutsche Literatur, die bei diesem Gegenstand aber maßgeblich ist, ergäbe das wohl die folgende Palette: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen "Der Abenteuerliche Simplicissimus, Teutsch", größtenteils 1668 und 1669 geschrieben von Einem, der dabei war, burlesk und alltagsnah, in der Sprache, in der gesprochen, geflucht und gewitzelt wurde, den Eindruck hinterlassend, ziemlich so habe es einem von den Zeitläuften umhergewirbelten Parzival im Straßendreck, in den damaligen Spelunken, Bordellen und Palästen eben ergehen können; Friedrich Schillers Stück "Wallenstein", 1796 bis 1799 verfasst, ein disproportionierter Dreiteiler von dennoch großer Eleganz, der das Gefühl vermittelt, man habe von den Burgzinnen aus zugesehen und an den Aristokratenhöfen mitgespielt bis zum blutigen Ende; Bertolt Brechts 1938/39, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geschaffenes Drama "Mutter Courage und ihre Kinder", so gut, als säße man tatsächlich auf dem Marketenderinnenwagen und reiste jahrelang durch den Krieg, und so schlecht, als müsse man ständig was draus lernen; und ein wissenschaftliches Werk schließlich doch, nämlich das 1971 erschienene Hauptwerk von Golo Mann, "Wallenstein", eine Großtat der narrativen Geschichtsschreibung, die einen gewissen schaurigen Komfort an sich hat, ganz als könne man am Kaminfeuer der erzählerischen Behaglichkeit noch einmal durch das Jagdfernglas zusehen, wie es gewesen ist. Man müsste vielleicht Richarda Huchs unverdient vergessene Werke hier aufführen und die Lyrik von Andreas Gryphius. Aber zu dem Kreis der kleinsten Enzyklopädie des Dreißigjährigen Krieges gehört sicher noch mehr der Wallenstein-Roman Alfred Döblins, unter dem Eindruck der Frontkämpfe bei Verdun geschaffen, mit der so überwältigenden wie erschöpfenden Suggestion, man sei überall, bei jeder Konferenz, jeder Hofintrige, jedem Morden, Schachern, Pokern und Schlachten persönlich zugegen gewesen.

Es gibt interessante Beziehungen und Parallelen zwischen den namentlich aufgeführten Werken. Am Auffälligsten ist gewiss die titelgebende Figur bei dreien der Bücher, die gleichwohl Gesamtdarstellungen der Krieges sein wollen und sind. Weshalb sich der 1583 in Prag geborene und 1634 in Eger ermordete Albrecht Wenzelslaus Eusebius von Waldstein, genannt Wallenstein, so hervorragend als Repräsentant seiner Zeit eignet, ist ein Frage des nietzscheanischen Eros und des tragödischen Bedürfnisses. Liegt beides vor und will man denn einen so genannten großen Mann und eine wahrhaft spannende Geschichte haben von höchstem Aufstieg und blutigem cäsarischem Fall, dann ist Wallenstein der Musterkandidat. Der früh verwaiste Sohn eines hussitischen böhmischen Kleinadligen bringt es durch ökonomisches, administratives und militärstrategisches Genie, intelligente Skrupellosigkeit und egoistische Rationalität, politische Weitsicht, tatkräftigsten Größenwahn und intellektuelle Brillanz zu einem der reichsten und mächtigsten Männer des Reiches - so mächtig, dass sich die kaiserliche Zentralgewalt und ihre Berater am Ende nur durch eine Mordintrige seiner erwehren zu können glauben. Zwei äußerst förderliche Heiraten begründeten Wallensteins Reichtum, zwei Mal wurde er zum Oberbefehlshaber über die kaiserlichen Truppen ernannt, in zwei Fällen rettete er die katholische Fraktion und das Haus Habsburg vor dem drohenden Untergang. Fast wundert es, dass man ihn nur einmal ermorden musste. In der Kategorie erfolgreiche Tatmenschen und souveräne Strippenzieher dürfte Wallenstein im Rahmen seines Zeitalters jedenfalls nur noch mit Richelieu vergleichbar sein.

Sein unaufhaltsamer Aufstieg und die Geschäfte des Herrn W. hätten eigentlich Bert Brecht reizen müssen. Aber Brecht hatte sich - letzten Endes mit viel größerem Publikumserfolg - beim Sujet des Dreißigjährigen Krieges wie der Schankwirt Grimmelshausen für die Perspektive des gemeinen Volks entschieden. Zudem kannte und schätzte er den Wallensteinroman und seinen Autor, Letzteren wohl bis längstens zu jenem berüchtigten 65-jährigen Geburtstag Döblins im kalifornischen Exil, den Helene Weigel organisiert hatte, und bei dem das Geburtstagskind sich vor der versammelten Exil-Literatur-Prominenz, darunter gerade solchen Matadoren des Historischen Romans wie Thomas Mann und Lion Feuchtwanger, als der Christ und Katholik outete, der er bereits 1941 geworden war.

Wie Brechts Version vom Blickwinkel her dem Simplicissimus ähnelt, so kommt sie formal, mit ihrer Eleganz des Zugriffs auf die ungeheure Stoffmenge, die der Dreißigjährige Krieg vorhält, der Schöpfung des anderen Dramatikers im Bunde näher, Friedrich Schillers nämlich, der schon einige Jahre bevor er an das Wallenstein-Stück ging in seiner Profession als Historiker eine umfangreiche Geschichte des Krieges verfasst hatte. Im Juni 1797 schrieb er in einem Brief an Körner "Aber der Stoff [...] ist in der Tat abschreckend, und mit einer sauren Arbeit muss ich den Leichtsinn büßen, der mich bei der Wahl geleitet hat. Du glaubst nicht, was es einem armen Schelm von Poeten in meiner abgeschiedenen, von allem Weltlauf getrennten Lage kostet, eine solche fremdartige und wilde Masse zu bewegen." Schillers Kunstgriff, der dennoch nicht verhindern konnte, dass sein Projekt in ein gereimtes Lustspiel, das Schauspiel der Piccolomini und die Tragödie von Wallensteins Tod zerfiel, bestand darin, die Handlung erst im Jahre 1633 mit dem Zustandekommen des sogenannten Pilsener Revers zu beginnen, einer Solidaritätserklärung der Wallensteinschen Offiziere gegen die kaiserliche Ordre, die den Sturz des Generalissimus verhindern sollte, aber letztlich zu seiner Ermordung führt. In wohl kalkulierten Rückblenden werden Wallensteins Leben und die Geschichte des Krieges vom Prager Fenstersturz an nacherzählt, und insbesondere im letzten Drittel der Tragödie - nachdem er glücklich die unglückliche Love-Story zwischen Max Piccolomini und Thekla Wallenstein bewältigt hat - erweist sich Schiller als wahrer Meister des Suspense und Theater-Hitchcock, der bis auf den roten Teppich mit allen Effekten gewaschen ist. "Der langen Rede kurzer Sinn: Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst..." Zurück bleiben solche unsterblichen Epigramme und doch auch das Gefühl übergroßer Künstlichkeit und einer gewissen inadäquaten theatralischen Frivolität. Dem dramatischen Genie fehlt hier das Vermögen eines Shakespeare, noch hinter der kunstvollsten höfischen und rhetorischen Fassade den Horror der Wirklichkeit durchschimmern zu lassen.

Die wilde Masse selbst, dreißig Jahre Krieg, Seuchen, Terror und Wahn. Im Nachwort des Herausgebers zur Neuedition zitiert Erwin Kobel das Döblin-Vorbild Charles de Coster:

"Durch Krieg und Feuer,

Durch Lanzen und Schwerter

Suche;

In Tod und Trümmern,

In Blut und Tränen

Finde."

Zwei der eingangs vorgestellten Bücher werden dieser Maxime bezüglich der Darstellung des Krieges gerecht, und alle anekdotisch Bewanderten wissen, wie eigentümlich es ist, die zugehörigen Autoren Seite an Seite arbeiten zu sehen. Natürlich sind es nur die Ergebnisse, die die Arbeit des Militärarztes in den Zeiten des Ersten Weltkriegs und das mehr als 50 Jahre später, während der Kulturrevolte von 1968 in Westdeutschland entstehende Opus Magnum eines Historikers miteinander verknüpfen, Alfred Döblins Werk und das von Golo Mann, den Sohn des Schriftstellers, der sich so oft für Döblin eingesetzt hatte, aber in einer gewissen hilflosen Erfolgsüberlegenheit gar nicht umhin konnte, von diesem schließlich mit Hass überschüttet zu werden. Golo Mann erwähnt in seinem Buch Döblin nicht - und was mag er sich wohl dabei und überhaupt bei der Konzeption einer monumentalen Wallenstein-Biographie gedacht haben?

Zwei Tausendpfünder, will man inspiriert von den endlich verrosteten Kriegshaubitzen sagen, zwei Tausendseiten-Folianten des gleichen Titels, der gleichen Besessenheit, der gleichen Energie und Neugierde, der gleichen freudigen Skrupellosigkeit, den Leser mit den Gerölllawinen historischer Faktizität zu überschütten. In ihrer Detailfülle und Massivität gleichen sie einander wie riesige graue Dickhäuter. Dem Döblinsche Rhinozeros, aggressiv und ungeheuerlich, mit großem Horn und Panzerplatten versehen, steht das Mannsche Nilfperd gegenüber, rundlicher seines gepflegten Parlandos und der zeitgenössischeren Argumentationen wegen, aber doch ebenfalls ganz kolossal. Beide Autoren zeigen einen wesentlich realistischeren Wallenstein als Schiller. Aber mit diesem eint sie die Absicht, keine Hagiographie zu schreiben, sondern des Kaisers General als - überlegenes und besonders gefürchtetes - Kind und bedingtes Element seiner Zeit darzustellen. Döblin versucht es wie Homer und Golo Mann wie Thukydides, sie nähern sich jedoch weit einander an, weil sie die Grenzen ihres Genres klar erkennen und gezielt überschreiten. So wie der Historiker den Haupttitel um den Zusatz "sein Leben erzählt von Golo Mann" erweitert, um sich zum Romanhaften und Narrativen zu bekennen, so sucht Döblin die Romanschriftsteller als "besondere Art Wissenschaftler" zu etablieren, die "aus Gründen ihrer Wissenschaft mehr Zugang zur Realität und zu mehr Realität Zugang als sehr viel andere" hätten.

Dass Golo Mann wie viele Historiker Wallenstein als einzigen weitblickenden Staatsmann des Deutschen Reiches und geradezu als verfrühten Europapolitiker bewundert, der im Vergleich zu den anderen großen Hyänen seiner Zeit "doch der Ehrlichste war [...] und auf seine alten Tage der Bessere", während Döblin immer Distanz zu dem von ihm als erschreckenden und blutigen Machtmenschen empfundenen General hält, macht einen großen Unterschied der Betrachtungsweise aus. Um nachzuempfinden, wie sehr sich die beiden Autoren in der sprachlichen Gestaltung und im Imaginationsvermögen suchen und wie sehr sie sich doch unterscheiden, kann man ein recht letztendliches Detail begutachten, nämlich die Sätze, die sie Wallenstein noch gönnen, nachdem ihm der Hauptmann Deveroux eine Partisane in den Brustkorb gestoßen hat. Golo Mann schreibt: "[...] des Todes riesiges Zackenmesser vier, fünf Organe durchwühlend, wo eines genügt hätte. Feuer, stickender Schmerz, kreisender Weltuntergang. Einmal noch, mit Menschenmaß gemessen das Fragment einer Sekunde, mag das Bewusstsein aufflackern zu Licht, von dem keiner je erzählte; dann, indem der Körper hinsinkt, kommt die Nacht, die erlösende Nacht." Und Alfred Döblin: "Sie konnten an ihm tun, was sie wollten. Das war nicht mehr Wallenstein. Ein gurgelnder Blutstrom war aus dem klaffenden Loch an seiner Brust hervorgestoßen, wie von Dampf brodelnd. Mit ihm war er davon. Wieder eingeschlürft von den dunklen Gewalten. War schon aufgerichtet, gereinigt, getrocknet, gewärmt. Sie hielten ihn murmelnd, die starblinden Augen zuckend, an sich."

"Egrae obiit aegre" (Zu Eger starb er bitterlich.), steht auf der Rückseite eines Gemäldes des Ermordeten im Prager Wallensteinpalais. Wenn man aus der Döblinschen Version von Wallensteins Sterbekammer heraustaumelt, wird man über die Leiche von Wilhelm Slawata stoßen, eines wichtigen Mannes, der schon den Prager Fenstersturz überlebt hatte und dann auch diesen Romantod im Jahre 1634, denn er starb erst 1652 als Achtzigjähriger im Bett. Man muss nicht Golo Mann oder - mit vermutlich weniger Parallelvergnügen - einen anderen guten Historiker zum Dreißigjährigen Krieg lesen, um die eigentümliche Faktenlage des Döblinschen Wallenstein zu ermessen. Wer sich den Luxus der im Walter-Verlag erschienen Neuausgabe des Romans gönnt, wird auf einen verdienstvollen Anhang mit Wort- und Sacherklärungen stoßen, die über die wichtigsten Abweichungen von der historischen Wirklichkeit informieren und neben nützlichen Kommentaren und Erläuterungen auch Querverweisungen zu anderen Werken Döblins enthalten. Faszinierend ist, wie wenig und wie gezielt Döblin im Allgemeinen und Besonderen von den vorgegebenen Tatsachen abweicht und in welcher Fülle er mit Tatsachen aufwartet. Es gibt für den vom Wallenstein-Roman fokusierten Zeitraum zwischen 1621 und 1634 bei Golo Mann kaum einen Winkelzug, ein taktisches Detail, ein Truppenmanöver, eine Intrige des französischen oder spanischen Gesandten, die Alfred Döblin nicht auch und nicht auch geschichtswissenschaftlich solide bezeichnet hätte. Das der Neuausgabe beigegebene, zur Aktualität fortgesetzte Publikationsverzeichnis zum Dreißigjährigen Krieg weist im Einzelnen nach, welche Bücher Döblin verwendet oder wenigstens eingesehen hat. Es ist eine für die Kriegsbedingungen und die kurze dreijährige Arbeitszeit an diesem monumentalen Roman ganz unglaubliche Menge.

Sich kundig zu machen, wenn möglich auf wissenschaftlichem Niveau, die Details einzufangen, die zahllosen Realien wieder aufzufinden, das Konkrete, die Brüche und Differenzen, die Haarsprünge in der erloschene Materie der Vergangenheit - das ist die Arbeitsweise, die Döblin explizit für einen neu zu begründenden historischen Roman gefordert hatte. In dem 1913 in der Zeitschrift "Der Sturm" als "Berliner Programm" veröffentlichten poetologischen Pamphlet "An Romanautoren und ihre Kritiker" verlangt er "Psychiatrie" statt abgeschmackter Psychologie, Aktion und Bericht an Stelle vorgefertigter Erklärungsmuster und der zugehörigen schönen Phrasen. Der historische Urstoff soll gleichsam selbst zu Wort kommen, so dass am Ende der Gegenstand des Romans "die entseelte Realität" sei und seine Fassade aus nichts anderem bestehe "als aus Stein und Stahl, elektrisch blitzend oder finster." Für diesen "steinernen Stil" fordert Döblin schließlich sogar: "Die Hegemonie des Autors ist zu brechen; nicht weit genug kann der Fanatismus der Selbstverleugnung getrieben werden."

Angesichts der methodischen Forderungen des Autors erscheint es fast müßig, den Inhalt des Wallenstein-Romans wiederzugeben. Döblin muss alles Wichtige über Wallenstein erzählen und alles Wichtige über jenen Krieg, den der Generalissimus weitgehend mitbestimmt hat. Der Roman beginnt im Jahr 1621, nachdem die kaiserlichen Truppen unter der Führung von Tilly den Aufstand der böhmischen Stände niedergeschlagen haben. Er behandelt sämtliche auch von den Historikern als relevant angesehenen Ereignisse, und endet etwa 1635 nach einer bemerkenswerten und noch zu erwähnenden Szene mit einigen wenigen Sätzen von großartiger und schrecklicher Lakonie, die klar machen, dass noch einmal dreizehn Jahre Krieg die Lande verheeren werden. Aus der Vogelperspektive betrachtet, besteht die Erzähltechnik zunächst einmal darin, ein präzise recherchiertes Koordinatensystem der wichtigsten Ereignisse in chronologischer Folge anzulegen (die Höhendimension des Gitters kommt durch die verschiedene Figurenperspektiven zustande). Die weißen Freiflächen bilden dann ein Mosaik von Leinwänden, auf die sich die Aufnahmen der zahlreichen epischen Kameras projizieren lassen. So folgt Episode auf Episode, mit raschen Einstellungswechseln. Der Krieg wird gleichsam über einen großen narrativen Split Screen verteilt.

Wie füllt Döblin jetzt unter den Vorgaben seines gestrengen Berliner Programms die Leinwände ästhetisch korrekt aus? Ohne Psychologie, ohne Kommentator beziehungsweise den tief im Brunnen der Vergangenheit raunenden Erzähler? Döblin wählt eben den "Filmstil", er sucht das Material, den historischen Urstoff, der den Leser überwältigen soll, mit der Kamera, vielerorts so, wie er es von Flauberts großem Karthago-Roman Salammbô gelernt hat. Was kann man sehen und filmen? Zunächst die Aktionen des Krieges, das Spektakuläre für die Außenaufnahmen, also Schlachten, Manöver, Plünderungen, Morde, Heereszüge, Vertreibungen. An zweiter Stelle gibt es die Interieurs, das Zusammenkommen der Akteure bei Gesprächen, Konferenzen, Intrigen, Planungen, Verhandlungen. Damit hätte man die Gegenstände und Vorkommnisse, denen der Autor den Transport der historischen Wirklichkeit zutraut. Letztlich besitzt er aber kein Objektiv, sondern nur Stift und Papier. Welche Sprache kann für die notwendigen Beschreibungen benutzt werden, wie reden die Steine, aus denen die Oberfläche des Romans bestehen soll?

Weil die Dinge nun einmal keine Sprache haben, sucht Döblin vorhandene Sprachformen hoher Materialität. Und so collagiert und verfremdet er souverän die Darstellungsweisen von Zeitungsreportagen, die Schreibarten der historischen Quellen und den Jargon der Historiker, in dem einmal rasch der vergrauste Sachse sieben Regimenter herüberwerfen und der Schwede den Bayern an den Ohren packen kann (oder seinen Koch, falls er einen dabei hatte). Ähnlich collagierend und semi-naturalistisch geht Döblin mit dem Dialog um. Er hat ja auch kein Mikrofon dabei, um die O-Töne des großen deutschen Kriegs aufzuzeichen, muss aber das Gespräch als Romangegenstand sehr oft verwenden, da er sich den Erzählerkommentar nicht gestattet.

Mit Hilfe dieser Methoden bildet Döblin das Skelett, die Organe und das Muskelfleisch des Romans, die subkutane Anatomie des Krieges. Für sich allein genommen läge damit ein eigenwillig erzähltes umfangreiches Geschichtswerk in narrativer Tradition vor. Von geradezu wüster Sprödigkeit muss man hinzufügen. Mit Erotik soll es nicht aufgebessert werden, denn der "erotische Wahn" der "Atelier-Schriftstellerei" führe dazu, dass die schriftstellerische Welt sich "succesive vereinfacht auf das geschlechtliche Verhältnis", so dass die Döblinschen Figuren also nie solche schönen welschen Sätze hören werden wie dereinst der wackere Simplicius: "Allez Mons. Beau Alman, gee schlaff mein Herz, gom, rick su mir!" Döblin weiß aber - schon 1917 - andere Wege, um den "Übergang einer übernommenen Realität, einer bloßen schattenhaften Überlieferung in eine echte, nämlich ziel- und affektgeladene Realität" zu bewerkstelligen, wie er es dann 1936 im Pariser Exil im Rahmen seines Vortrags "Der Historische Roman und Wir" fordern sollte. Hierzu gehören die enorme Lebendigkeit einzelner Szenen, mit denen er immer wieder die steinerne Oberfläche durchbricht, die leitmotivische Metaphorik, die er durch den Roman gezogen hat, die zum Teil experimentellen sprachlichen Finessen auf der molekularen Ebene. Nicht zuletzt muss man das beinahe unfreiwillige Begehen der inneren Räume der Figuren erwähnen, durchgeführt mit einer Intuition und Plastizität, die den Historikern für gewöhnlich nicht zur Verfügung steht.

Letztlich wolle der Autor doch nicht: "alle Fakten stehen lassen", denn im Unterschied zum Historiker sei er nicht von "einem wahnhaften Objektivitätsdrang" besessen. Die Freiheit, die Döblin hier 1936 fordert, hat er sich im Wallenstein nur partiell und nicht so wohl proportioniert wie in späteren Werken genommen. Das Enfant Terrible seines Wallensteinromans, das immer wieder durch die Steinmauer der poetologischen Vorsätze bricht, ist der Roi Terrible, Kaiser Ferdinand II, schrecklich vor allem im Ausmaß seines Wankelmuts. Mit ihm kommt viel Psychologie, etliche Psychopathologie in den Roman. Sein Verhältnis zu Wallenstein ist das eines Hamlet, der unverhofft einen Mephisto gefunden hat. Döblin hat zugegeben, dass er seinen Roman eigentlich "Ferdinand der Andere" hätte nennen müssen. In die historische Gestalt des Habsburgers, die Golo Mann den "Popanz" nennt, schleichen sich dann eben Psychologie, Wahn, Verzückung, Subjektivismus des Autors, der ihn schuf. Und ihn deshalb auch faktenwidrig beseitigt: Als man Wallenstein mordet, hat sich der Roman-Ferdinand aus seinem Schloss davongemacht, um unerkannt, als elender zerlumpter Greis auf der Straße umhergestoßen zu werden und durch Wälder und Gefängnisse zu irren. Am Ende lässt ihn Döblin, statt ihn Jahre später historisch korrekt im Bett sterben zu lassen, in einer Höhle von einem irren Waldmenschen erdolchen. Das verblüffend unfaktische Ende eines überfaktischen Romans ist irritierend und beklemmend. Es verhält sich fast wie buddhistischer oder besser im Sinne des Wang-lun-Romans taoistischer Schlusskommentar zum Krieg.

"Die Spannung ruiniert den Roman", schrieb Döblin 1917 in einem Aufsatz für "Die Neue Rundschau". So gesehen ist der Wallenstein-Roman keinesfalls ruiniert. Aber die enorme Lesemühe, die er bereitet, lohnt sich. Es ist die innere Spannung von Döblins rigiden Selbst-Vorgaben mit den unabsichtlichen und den gewählten Brüchen, die fasziniert und unterhält. Am Meisten aber überzeugt das Zusammenfallen von Sujet und Bauart, die Entsprechungen in der Anatomie des Gegenstandes und der Methode des Kunstwerks. Der Roman-Koloss passt zum Dreißigjährigen Krieg wie das Dürersche Rhinozeros und die Dürersche Melancholia, die geschlagen zwischen den massiven Symbolen ihrer Zeit sitzt. Und mehr als alle anderen besprochenen Autoren lehrt Döblin Ekel und Abscheu vor dem Krieg und seinen Treibern, nicht zuletzt, weil er durch den Horror von Verdun zurückblicken musste, während er den "Wallenstein" schrieb. Der Wallensteinroman ist einer der Höhepunkte des deutschen historischen Romans, im Rang, wenn auch ganz und gar nicht in der Machart Hermann Brochs "Tod des Vergil" vergleichbar und natürlich den Josefsromanen des Antipoden Thomas Mann. Unter dem weltliterarischen Blickwinkel stellt er aber weniger einen isolierten Gipfel dar als so etwas wie einen mächtigen Bergrücken, Teil eines großen Massivs, das mit Flauberts "Salammbô" und Tolstois "Krieg und Frieden" verbunden ist. Autoren der nächsten und übernächsten Nachkriegszeit sind über ihn gewandert, ob sie es wussten oder nicht.

Am Ende kann man immer Schiller zitieren. "Spät kommt ihr, doch ihr kommt", sagt - natürlich im "Wallenstein" - der Feldmarschall Illo zu dem General der Kroaten, Isolani. Das gilt für das erst hier platzierte Lob der enormen und präzisen Arbeit, die sich der Schweizer Germanist Erwin Kobel mit der aktuellen Ausgabe gemacht hat, und will auch heißen, dass die Neuedition des erstmals 1920 erschienenen Romans nicht als überstürzte Aktion des Verlags gewertet werden kann. Die Döblins späterem geringen Interesse an Überarbeitungen und den schwierigen Bedingungen der Abfassung und Publikation eines derart Personen- und materialhaltigen Werks geschuldeten Mängel hatten Walter Muschg 1965, acht Jahre nach Döblins Tod, schon an etwa 2000 Stellen zu Revidierungen veranlasst. 36 Jahre nach Muschg hat Erwin Kobel nun fast 2000 weitere Textänderungen vorgenommen. Man kann sich vom Schreck erholen, denn weder Kobel noch Muschg hatten einen verstümmelten, unterdrückten, demolierten Text, dem es durchs Dach regnete, vor sich. Die Eingriffe sind fast allesamt mikrochirurgisch, sie ereignen sich im arteriellen Feingeflecht einzelner Wörter, vor allem im Bereich der eigenwilligen Döblinschen Interpunktion und der Schreibweise der zahllosen Personen- und Ortsnamen, die nach Kobels Eingriffen jetzt innerhalb des Werks einheitlich ist und den heutzutage üblichen Formen und Transkriptionen entspricht. Der Luxus eines gut kommentierten Personenverzeichnis wird nicht nur den wissenschaftlich arbeitenden Leser erfreuen. Schließlich - und hier sind die akribischen Hochleistungen des Handschrifts-, Erstdrucks-, Quellen- und Materialienvergleichs vollbracht - ging es um die Beseitigung der wahrhaften Textverderbnisse, von knapp 300 sinnstörenden Fehlern also, die in verschiedenen Graden vorlagen, von der "Raider"-statt-"Twix"-Kategorie bis hin zu tödlichen Differenzen: "Profoß" statt "Profeß", "knauen" statt "kauen", "Kehlbraten" statt "Kehlbart", "Schleim" statt "Schlamm", "knabbern" statt "knattern", "Weiber" statt "Weiter", "Lehen verlieren" statt "Leben verlieren".

Was ist den Döblin-Lesern zu raten, die wohl zumeist im Besitz eines Taschenbuchs mit der Muschg-Ausgabe sein werden? Man muss nicht Kobel kaufen, wenn man nicht wissenschaftlich mit dem Text arbeiten will, denn die Muschg-Ausgabe enthält über den Daumen gepeilt nach wie vor 99,85 Prozent korrekten Döblin. Wer jetzt aber Kobel kauft, ersteht gleichsam die sandstrahlgereinigte Ausgabe, und das ist wie bei Kathedralen und alten Rathäusern und menschlichen Zähnen und historischen Türmen eine gute und notwendige Sache, auch wenn der frischen Glanz zu Anfang etwas unnatürlich scheinen kann.

Titelbild

Alfred Döblin: Wallenstein. Roman.
Herausgegeben von Erwin Kobel.
Walter Verlag, Düsseldorf 2001.
1022 Seiten, 88,00 EUR.
ISBN-10: 3530167142
ISBN-13: 9783530167146

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