Psycho-Couch im Schlaflabor

Ein ermüdender Band zu Freuds Traumtheorie

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Glaubt man Arno Schmidt, so haben die unerwartet hohen Taschenbuchauflagen von Freuds "Traumdeutung" ihren Grund nicht darin, "daß neuerdings die literarischen Feinschmecker und subtilen Denker plötzlich zu Hunderttausenden mitten unter uns wären". Vielmehr beruhe der überraschende Verkaufserfolg darauf, dass das Volk erfahren möchte, "ob der brünette Herr, der Einem zwischen Uhlenflucht & Hahnenkrat durchs Kleinhirn säuselte, binnen 3 Tagen den Geldbriefträger' bedeutet'".

Da sich Freuds epochemachendes Werk aber weder als Symbolregister noch als Prognose-Werkzeug bewährt hat, verwundert es keineswegs, dass sein 100jähriges Jubiläum nirgendwo als Straßenfest begangen wurde. Man hat Freuds Theorie ausschließlich in akademischen Expertenzirkeln gedacht - und selbst da wollte feierliche Stimmung nicht so richtig aufkommen. Ein jüngst im Wiener Passagen Verlag erschienener Band dokumentiert die Vorträge einer interdisziplinären Tagung an der Universität Düsseldorf, die Freuds monumentales Werk aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Wie im von Heinrich Deserno herausgegebenen Essayband "Das Jahrhundert der Traumdeutung" (Klett-Cotta) geht es den Beiträgern auch hier um eine Zwischenbilanz. Was taugt das sogenannte Jahrhundertwerk ein Jahrhundert nach seinem Erscheinen? Welche Rolle spielt der Traum in psychoanalytischen Behandlungen unserer Tage? Wie dechiffrieren Psychoanalytiker latente Traumgedanken heute? Welche neuen Erkenntnisse gibt es zu den Nachtseiten unseres Seelenlebens? Werden Träume nach wie vor als Erfüllung oder versuchte Erfüllung unbewusster Wünsche betrachtet? Gelten Trauminhalte einer kritischen Wissenschaft unverändert als verschlüsselte Botschaften des Unbewussten?

Die Beantwortung dieser und weiterer Fragen erwarten alle Leser, die das Buch aufgrund seines vollmundig-plakativen Untertitels "Zur Aktualität der Freudschen Traumtheorie" erwerben. Leider vermeiden viele der an dieser Tagung beteiligten Psychoanalytiker, Philosophen, Philologen und Psychiater deutliche Stellungnahmen zu derlei "heißen Eisen". Gerade weil die Traumdeutung (und damit die Psychoanalyse insgesamt) am gesellschaftlichen Geltungsverlust ihrer Erkenntnisse leidet, hätte man sich aber eine ebenso mutige wie genaue Standortbestimmung gewünscht.

Stattdessen ergehen sich die Referenten in ausführlichen und bisweilen ermüdenden Fallstudien ihrer jeweiligen Forschungsschwerpunkte. Statt einer Bestandsaufnahme erfährt man so einiges, das wohl auch außerhalb von Jubiläumsveranstaltungen auf den Tagesordnungen psychoanalytischer Fachkongresse gestanden hätte. Statt die Aktualität der Freudschen Theorie zu erkunden, beschäftigt man sich lieber mit der vorpsychoanalytischen Tradition bei James, Fechner oder Nietzsche. Ganz zweifellos scheuen viele Vorträge das Risiko einer einseitigen Parteinahme, gehen auf Nebenschauplätzen zu sehr ins Detail und dabei zu sehr an der Sache vorbei. So liefert die Altphilologin Christine Walde etwa eine beispielhafte Analyse des Traums bei Lukrez - dabei entsteht unweigerlich der Eindruck, dass man über derlei schadstoffarme Themen lieber spricht als sich über divergierende Behandlungstechniken zeitgenössischer Traumdeuter zu streiten.

Bei aller Interdisziplinarität kam eine der wichtigsten Konsequenzen der Freudschen Theorie nicht einmal am Rande zur Sprache - ihre Folgen für die Literaturtheorie. Schließlich entstand mit der psychoanalytischen Traumdeutung ein wegweisendes Paradigma, das den Blick auf die Rolle des Unbewussten bei der Produktion literarischer Werke gelenkt hat. Ob es nun um Traumdeutung oder Literaturinterpretation geht - die Frage nach der Überprüfbarkeit spekulativer Lehrsätze, nach der wissenschaftlichen Haltbarkeit durch freie Assoziation entstandener Gedankengebäude wäre auch in diesem Kontext eine lohnende Frage gewesen. Da sich Freud als Naturforscher und Mediziner verstand, hätte man sich einen Beitrag gewünscht, der Freuds Erkenntnisse über die tiefen Seelengründe mit heutiger Hirnforschung vergleicht. Schließlich hat Mark Solms an anderer Stelle nachgewiesen, dass Psycho-Couch und Schlaflabor keine Gegensätze zu sein brauchen, da sich die traditionelle Psychoanalyse sehr wohl im Einklang mit heutiger Neurowissenschaft befindet.

In dem wohl interessantesten Text dieses Bands belegt Chistoph Weismüller immerhin eindrucksvoll, dass es seit Erscheinen von Freuds Werk nur Akzentverschiebungen, aber keine grundlegende Neuorientierung der Traumdeutung gegeben hat. So wird deutlich, dass sämtliche Abweichler mit ihren kritischen Positionen bewusst oder unbewusst dem von Freud gesteckten Rahmen verhaftet bleiben. Dies gilt für alle gegenläufigen Interpretationen, die sich mit Freuds Theorie zu früher Zeit im Wettstreit befanden (Adler, Jung, Silberer) ebenso wie für daseinsanalytische Kontrapunkte (Binswanger, Boss, Wyss) und strukturalistische Konzepte (Foucault, Lacan). Weismüller zeigt, dass an Freud kaum ein Weg vorbei führt, "dass die Dissidenzen zur Freudschen Traumdeutung sich allesamt bisher darin erschöpfen, eine verschobene Darstellung des von Freud selbst eingeleiteten Problems der Unterstellung der Traumdeutung unter den Wissenschaftsanspruch zu leisten."

Zieht man die Bilanz dieser Tagung, so keimt der Verdacht, dass Freuds Traumdeutung allein schon deshalb aktuell bleibt, weil bis heute kaum jemand eine ernsthafte Alternative formuliert hat. Wie in mehreren Aufsätzen anklingt, sollen wirkliche Neuansätze erst in den letzten Jahren unternommen worden sein, u. a. von Rudolf Heinz, Veranstalter dieser Tagung und Herausgeber des vorliegenden Bandes. Heinz hat es im Herbst 1999 offensichtlich nicht gewagt, seine "Traum - Traum"-Theorien vor einem qualifizierten Fachpublikum zur Diskussion zu stellen. Vielleicht wollte er in guter Tradition einfach nur bis zum Anbruch des nächsten Jahrhunderts damit warten.

Titelbild

Rudolf Heinz / Wolfgang Tress (Hg.): Traumdeutung. Zur Aktualität der Freudschen Traumtheorie.
Passagen Verlag, Wien 2001.
301 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3851654684

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