Genauer Blick neben die Gesellschaft

Friedrich Anis neuer Roman aus dem Münchener Milieu: "Verzeihen"

Von Doris BetzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Betzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kneipenwirtin Ariane, HIV-infiziert und ehemalige Prostituierte, wird vermisst. Ein neuer Fall für Tabor Süden? Das Etikett passt nicht. "Verzeihen" ist kein Krimi. Es ist vielmehr ein Milieustück, das einen verstörenden Blick auf die andere Seite der blau-weißen bayerischen Hauptstadt offenbart.

Bereits im letzten Roman des Münchener Autors Friedrich Ani, "German Angst", machte der Leser Bekanntschaft mit dem Polizisten vom Polizeidezernat 11, Tabor Süden. Nun also ist eine 36-Jährige verschwunden, verschleppt von einem ehemaligen Reporter, Niklas Schilff. Das aber weiß Süden nicht. Er durchgrast ihren Freundeskreis, ihre Umgebung. Als ein leiser, einsamer Wolf bewegt er sich durch die Stadt, fernab der Bussi-Bussi-Gesellschaft, in abseitigen Straßen, in kleinen Kneipen, in muffigen Pensionen. Die Rolle des Protagonisten hat der Kommissar in "Verzeihen" nicht mehr inne. Die zentralen Figuren sind Opfer und Täter, Frau und Mann. Fast könnten sie ein Paar sein, so viel haben sie gemein an Zerrissenheit, an Verzweiflung über die eigene Biographie.

Ein merkwürdiger Wechsel von inneren Monologen und einem allwissend scheinenden Erzähler bringt uns Charaktere und Geschehen nahe. So nahe, dass es schmerzt: Der Entführer misshandelt seine Gefangene verbal, körperlich und sexuell. Und so erlauben selbst eingefügte parodistische Miniaturen am Rande der Schauplätze, etwa die skurrile Szene von Frauen in einer Selbsthilfegruppe, kein Lächeln mehr.

Es wird nicht viel erklärt in diesem Roman - es wird geschildert, in kurzen, abgehackten Sätzen. Knapp werden die Schauplätze skizziert. Sie wechseln schnell. Derart abrupt mitunter, dass der Leser Mühe hat, dem Geschehen nachzukommen. Stellenweise liebt es der Erzähler filmisch-dramatisch: "Aus dem Tunnel tauchten Lichter auf. Der Fahrer in der Kabine war deutlich zu sehen. Die Bahn raste näher. Und Schilff sah in die Augen des jungen Mannes am Schaltpult. Nur Sekunden. Und die Zeit war aus."

Die erlebte Zeit der Entführten und ihres Peinigers verläuft in ganz verschiedenen Bahnen. Ariane, mit verbundenen Augen gefesselt in einem leerstehenden Haus vor der Stadt, hat das Gefühl für die Gegenwart verloren. Sie flüchtet sich in wohlige Erinnerung an ihre Kindheit, erzählt sich im Geiste Geschichten, spricht mit ihrem geliebten Vater. Den Peiniger aber macht seine Vergangenheit ruhelos. Ehemals speiste er in den USA mit Robert de Niro. Dann flogen seine gefälschten Interviews auf: Vorbei war es mit der Position des strahlenden Insiders. Aus New York wurde wieder München. Dort streift er jetzt hin und her zwischen dem Haus und der Stadt. In einer unvermittelten Szene verstümmelt er sich selbst mit einem Messer, das ihm sein Vater geschenkt hat: "Mit der Ermordung seiner Vergangenheit war er einen entscheidenden Schritt vorangekommen", behauptet der Erzähler.

Und hier zeigt sich ein Problem dieses Romans: Der Erzähler ist manches Mal zu wenig, oft aber viel zu deutlich spürbar. Der psychologische Blick auf Randfiguren der Gesellschaft ist eigentlich das Talent des ehemaligen Polizeireporters Friedrich Ani. In Verbindung mit seiner spröden, gleichwohl intensiven Sprache erschafft er im literarischen Vorgänger "German Angst" spannungsvolle Gegensätze. Aber, mit Verlaub: Im neuen Buch winkt der ehrwürdige Freud mit dem Zaunpfahl - plakativ und aufgesetzt. Und so ist es nicht nur mit der Tiefenpsychologie: Jesus- und Marienmetaphorik wird in Verbindung mit dem Vergewaltiger und der Prostituierten gebracht. Doch wirken diese Kontraste nicht als Bilder einer Letztbesinnung auf den Glauben, wie sie in Arianes lebensbedrohlicher Situation durchaus plausibel wäre. Sie sind dem Erzähler in den Mund gelegt und damit bloßgestellt: als stilistische, aufdringlich reißerische Handwerkzeuge.

"Verzeihen" lässt das Gerippe seiner Konstruktion klappern: Schwarz-weiß der Buchumschlag, überdeutlich die inhaltlichen und stilistischen Kontraste. Beverly Hills gegen Giesing - ein solcher Spagat muss einfach nicht sein.

Titelbild

Friedrich Ani: Verzeihen.
Droemersche Verlagsanstalt, München 2001.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3426195283

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