Noch nicht entlassen

Pierre Bourdieus Kritik der scholastischen Vernunft

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Tod Pierre Bourdieus im Januar diesen Jahres ist der intellektuellen Kultur Europas vielleicht der letzte kritische Intellektuelle von internationalem Rang verlorengegangen. Entschiedenes Engagement gegen die Aggressivität der neoliberalen Weltordnung kennzeichnete den Mitbegründer von Attac ebenso wie eine feinsinnige Analyse der symbolischen Reproduktion sozialer Herrschaft. Nach seinem Tod ist es nun beinahe unmöglich, das letzte zu Lebzeiten in deutscher Sprache veröffentlichte Buch Pierre Bourdieus ohne eine gewisse Befangenheit des Moments zu kommentieren. Unmöglich scheint es zumal deswegen, weil das Buch durchaus als ein intellektuelles Vermächtnis gelesen werden kann.

Bourdieu rekapituliert in den "Meditationen" vor allem seine Theorie symbolischer Gewalt. In gewisser Affinität zur philosophischen Tradition des Pragmatismus, und darin liegt die besondere Kritik der scholastischen Vernunft, werden die theoretischen Diskurse auf ihr Verhältnis zu den praktischen befragt und wissenschaftliche Standpunkte auf ihre Position im sozialen Raum zurückgeführt. Bourdieus Kritik der idealistischen Wissenschaft, die ihre Voraussetzungen verklärt und zudem so tut, als seien Auseinandersetzungen um Begriffe schon Kämpfe ums Ganze, ist dabei zugleich ein Lob der politischen Praxis. Man könnte Bourdieus Vorgehen als politische Entzauberung der theoretischen Diskurse kennzeichnen.

Pierre Bourdieu legt die verborgenen Kämpfe um die Macht und um die gesellschaftlichen Ressourcen an symbolischem und ökonomischem Reichtum offen. In diesem Kontext steht auch die Kritik des repressiven Universalismus. Gegen John Rawls, Jürgen Habermas oder auch den wiedergeborenen Hans Kelsen wird vor der verfrühten Verkündung des Univer sellen die Universalisierung der Zugangsberechtigungen zum Universellen eingeklagt. Dadurch verweist Bourdieu aber, wo andere abstrakte Normen verkünden, auf die politische Wirklichkeit der Ver teilungskämpfe. So kann er den abstrakten Universalismus überzeugend als Siegermoral entlarven, die einer nachträglichen Nobilitierung der Dazugehörigen, kaum aber einer Politik der Gleichheit in Bildung, Kultur oder Ökonomie zu dienen vermag. Nicht nur hier rührt Bourdieu als streitbarer Intellektueller an bequemen Konsensen. Aber diese politische Kritik des abstrakten Universalismus zählt zu den stärksten Aspekten der "Meditationen".

Ein anderes Verdienst der "Meditationen" besteht in Verdeutlichung einer Zentralkonzeption des Bourdieuschen Denkens: des Begriffs der "Reflexivität". Methodische Fragen der Sozialwissenschaften gehen hier zusammen mit einer anspruchsvollen Theorie der gesellschaftlichen Individuierung. In dieser Deutlichkeit ist vielleicht bis jetzt noch nicht hervorgetreten, wie stark Bourdieus Theorie der sozialen Dispositionen des Habitus als eine Theorie der Freiheit gedacht ist. Die epistemische Objektivierung des erkennenden oder handelnden Subjekts in seiner sozialen Bestimmtheit steht im Zeichen einer reflexiven Bewegung der Subjektivierung. Diese dialektische Figur ist auch der kritischen Tradition der deutschen Sozialphilosophie nicht fremd. Man mag an vergleichbare Bemühungen etwa von Theodor W. Adorno denken.

Der Titel "Meditationen" oder "Méditations pascaliennes" im Original, führt jedoch ein bisschen in die Irre. Denn wer in den Meditationen feinsinnige, gelöste Einlassungen in aphoristischer Dichte erwartet, kann nur enttäuscht werden. Unter dem Titel sind stattdessen zornige und mitunter holprige kultur- und wissen schaftskritische Statements zusammengefasst - ein idiosynkratisches und polemisches Wortbündel. Bourdieu schlägt griesgrämig um sich und trifft dabei auch den ein- oder anderen Verbündeten. Außer an Wittgenstein, Marx, Mauss und Lévi-Strauss bleibt kaum ein gutes Haar an den akademischen Kollegen.

Und auch der Pascal-Bezug ist nicht sehr plausibel. Zwar hatte Edmund Husserl, Stammvater der phänomenologischen Tradition, seine Meditationen "cartesianisch" genannt. Und insofern kommt mit der Orientierung auf den Antipoden von René Descartes ein polemisches Anliegen zum Ausdruck. Eine systematische Affinität zum tatsächlichen Blaise Pascal, dem Mathematiker und Metaphysiker, will jedoch nicht so recht einleuchten. Der Bezug erscheint als arti fiziell und die Zitate als arbiträr. Darin sowie in einer Reihe von sprachlichen Umwegen, angestrengten Hypotaxen und Partizipialkonstruktionen scheint Bourdieu die akademischen Zwänge, die er thematisiert, durchaus zu reproduzieren und selbst eine ganze Reihe der beklagten scholastische Allüren aufzuweisen. Bis zuletzt scheint Bourdieu gefangen zu sein in der Reproduktion akademischer und aristokratischer Zwänge, die er doch gerade erst ihres Herrschaftscharakters zu überführen versuchte. Das bestätigt und widerlegt ihn in einem Zug. Der zornige Impetus untermauert diesen performativen Widerspruch, aus dem es vielleicht keinen Ausweg gibt.

Insgesamt erscheint das Buch mit all diesen Widersprüche als ein unerlöstes Werk, von Zorn und Idiosynkrasie gekennzeichnet. Mag zwar alles Talent, nach einem Wort Adornos, glücklich sublimierter Zorn sein, so sind die zornigen Worte eben aber doch keine lösenden Worte. Bourdieus Werk ist mit diesem Buch noch lange nicht abgeschlossen und noch weniger sind es die kritischen Impulse, die von ihm ausgehen. Daher kann er nach diesem Buch eigentlich noch nicht entlassen werden. Man hätte ihn gerne noch zu neuen, besseren Schriften herausgefordert. Jetzt wird die Verwirklichung seines Denkens anderen vorbehalten bleiben.

Titelbild

Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft.
Übersetzt aus dem Französischen von Achim Russer.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
338 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3518583077

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