keine fotoausgänge aus dieser geschichte

Kathrin Röggla und ihr Buch über den 11. September

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Soll man das nun als glücklichen Zufall oder doch eher als Künstlerpech bezeichnen? Da erhält eine junge Autorin, geboren in Salzburg, beheimatet in Berlin, ein Stipendium, macht sich auf nach New York, um an ihrem neuen Buch zu arbeiten, und ein paar Tage nach Bezug des für drei Monate gestifteten Arbeitsplatzes in Manhattan passiert folgendes: "einen tower haben wir hier eben brennen und einstürzen sehen, ca. einen kilometer entfernt von unserem platz an der ecke houston/wooster street mit ziemlich guter perspektive auf das, was man euphemistisch 'geschehen' nennen könnte und was doch weitaus zu groß zu sein scheint, um es irgendwie integrieren zu können in eine vorhandene erlebnisstruktur."

Der Einbruch einer anderen, unwirklich erscheinenden Wirklichkeit in die Realität der Schreibenden bringt die anfängliche Versuchsanordnung ins Wanken. Auf einmal sucht sich der Text ein anderes Objekt, die Aufmerksamkeit wird von etwas Unfassbarem vollkommen okkupiert. Das Autoren-Ich steckt mitten im "Geschehen". "jetzt also habe ich ein leben. ein wirkliches", heißt es in Kathrin Rögglas neuem Buch "really ground zero" ganz am Anfang, geschrieben nur Stunden nach dem Attentat auf das World Trade Center am 11. September. Und hinter der Ironie, die in diesem Beginn mitschwingen mag, steckt doch so etwas wie Erstaunen, Ehrfurcht, Wachheit. Die Wahrnehmung richtet sich mit noch größerer Intensität nach außen, und dieses Außen präsentiert sich als ein nicht mehr überschaubares Gewusel aus Angst, Paranoia, Heuchelei, Idiosynkrasien, Horrorbildern, Statements, Patriotismus, Hilflosigkeit, Ohnmacht. Wirr strebt hier alles auseinander und trotzdem hat es noch ein Zentrum, allerdings ein verlorenes: "really ground zero".

Am Nullpunkt angelangt geht es darum, das Vakante mit Text zu füllen: Während in den Medien die immergleichen Bilder, Verlautbarungen und Augenzeugendokumente abgefahren werden, geht Röggla einen Schritt weiter: Sie versucht, eine Sprache zu finden, die das mediale Sprechen mitreflektiert. Das in Mikrofone Hineingesprochene und Ausgesendete wird als Material verwendet und interpretiert.

Schon mit ihren bisherigen Prosa-Büchern hat Röggla deutlich gemacht, dass es derzeit kaum eine andere Autorin gibt, die so nah am Jetzt dran ist, so vehement in der Sprache ein Gefühl für die Zeit mittransportiert. Sie versteht es, etwas atmosphärisch Spürbares musikalisch und experimentell umzusetzen. Durch den Druck der Aktualität im New York des Herbstes 2001 tritt ein weiteres Element im Schreiben Kathrin Rögglas stärker hervor: der Reportagecharakter. Die Ereignisse müssen schnell aufgenommen, gelesen und übermittelt werden.

Michel de Certeau beschreibt in einem Beitrag über die Twin Towers aus dem Jahr 1988, der kürzlich in der taz abgedruckt wurde, die Stadt als ein gewaltiges Textgewebe. Von oben, gottgleich, lässt sich das Ganze überschauen, lesen, allerdings sei die "Panorama-Stadt" ein "theoretisches Trugbild" - eine Fiktion, die nur durch ein "Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge zustande kommt". Unten leben die gewöhnlichen "Benutzer der Stadt", deren Körper "dem mehr oder weniger deutlichen Schriftbild eines städtischen 'Textes' folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können."

Mit dem Einsturz des World Trade Centers - dem heimlichen Zentrum und der Aussichtsplattform der Metropole - ist auch die Illusion einer Lesbarkeit der Stadt aus der Vogelperspektive erst einmal mit eingestürzt. Es gibt - zumindest im Moment des Schocks keine Alternative mehr zum Mittendrin. Zwangsläufig ändern sich die Raumwahrnehmungen.

Sich in diesen "haufen an authentizität", dieses Chaos aus Situationen hineinzubegeben, nicht verloren zu gehen und aus den Splittern etwas herauszulesen, ist schon eine Kunst. Aber nicht nur nicht verloren zu gehen, sondern obendrein mit zwei Handvoll Texten daraus aufzutauchen, die mehr sind als nur hingestammeltes Entsetzen, ist bravourös. Kathrin Rögglas skizzenhafte und sehr präzise Beschreibungen vom "really ground zero", die den "11. september und folgendes" in Wort und Bild zum Thema haben und nur kurze Zeit nach den Geschehnissen in deutschsprachigen Tageszeitungen erschienen sind, versammelt nun also ein Buch. Gegenüber der reflexartigen Veröffentlichungspraktik nach Katastrophen, ist durchaus Skepsis angebracht- der Rowohlt-Verlag warf gar vier Wochen nach dem 11. September ein grabstein-schwarzes Bändchen auf den Markt. Doch bei Kathrin Röggla zerfallen solche Zweifel schon nach den ersten Sätzen.

Hinter diesen Sätzen scheinen Fragen auf, die weit über eine spontane Erschütterung hinausgehen und trotzdem eine gewisse Ratlosigkeit nicht zu vertuschen versuchen: Wie reagieren auf die Medienbilder, die aus dem eigentlichen "Geschehen" etwas Fiktionales zu machen scheinen? Wie reagieren auf den Diskurs, der auf der Panikskala zwischen Hysterie und Beruhigungsfloskeln nicht mehr richtig austariert wird, sondern nach einem unbestimmten Gesetz wild hin und her floated? Wie jenes Amerika begreifen, das auf den ersten Blick als monolithischer Block erscheint, das Gegenstimmen kaum zulässt? Wie einen Gegenpol schaffen zu all den schon vorfabriziert wirkenden Meinungen der Medienmaschinerie?

Kathrin Röggla geht erst einmal hinaus - mit dem Fotoapparat, dem Mini-Disc-Recorder. Sie schaut hin, hört zu, beobachtet, wie die Reporter beobachten, riecht den Rauch und schreibt ihre ersten Zeilen noch mit Sauerstoffmaske: "keine fotoausgänge aus dieser geschichte, so viel steht langsam fest. durch all diese medienbilder müssten wir zu fuß gehen, aber das wäre ein zu weiter weg, das schafft man nicht, also bewegt man sich besser selber runter ins gebiet, um sich seiner wahrnehmung zu versichern."

Die Versicherung und Verunsicherung der eigenen Wahrnehmung ereignet sich auf unterschiedlichen Wegen. Man müsse, nicht zuletzt lernt sie das aus Uwe Johnsons "Jahrestagen", zwischen den Zeilen der New York Times lesen. Viel Zeit ist dafür allerdings nicht, denn plötzlich ist man schon wieder "mitten in den gesichtern" und die Zeichen wirbeln bunt durcheinander. Zur Ruhe oder zum Nachdenken zu kommen, ist kaum noch möglich. Röggla trifft auf Leute in den Straßen, auf Teilnehmer an einer Anti-Kriegsdemonstration etwa, die sich kurioserweise brav auf dem Gehsteig der Fifth Avenue abspielt. Sie trifft mit besonnenen Intellektuellen zusammen, sie beobachtet die Gesten und Phrasenhaftigkeit der Politiker im Fernsehen und im Yankee Stadium bei der offiziellen Trauerfeier für die Toten, wo im Drang nach Normalität "viele disparate stimmungen" aufgefangen werden müssen.

Das Amerikabild, das Röggla aufzeichnet, erscheint als Produkt einer "neuen kooperation von medien und militär". "geheimamerika" konstituiert sich als Mixtur aus Information, Desinformation oder gar keiner Information. Genug Spielraum für Verschwörungstheoretisches zwischen Thomas Pynchon und David Lynch. Röggla arbeitet sich an solchen Wahrnehmungslinien entlang, hinkt hinkenden Vergleichen hinterher, durchstöbert einen unendlich sich ausbreitenden Textraum nach, ja, vielleicht schon so etwas wie Wahrheiten. Oder zumindest nach etwas, das die eigene und allgemeine "informationsgestörtheit" ein wenig zu entzerren hilft. Sie besucht deshalb eine Vorlesung des französischen Philosophen Jacques Derrida und wundert sich, dass der überhaupt nichts über die derzeitige Situation verlautbart. Und wundert sich auch darüber, dass sie sich wundert.

Das macht die Qualität dieses schmalen Buches aus: dass es die Selbstzweifel mitliefert. Dass es das Spannungsfeld formuliert, in dem man plötzlich eingeschlossen ist: dieser "haufen an ideologemen, aufgebrochenem vokabular, kontextverschiebungen, rhetorischen operationen, schrägen übersetzungen". "really ground zero" macht erkennbar, wie groß die Sehnsucht nach Überblick in Zeiten forcierten Chaos' ist. Und dass Überblick letztlich nur als Illusion existiert.

Titelbild

Kathrin Röggla: Really Ground Zero.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
109 Seiten, 7,00 EUR.
ISBN-10: 3596156467

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