Von Raabe und anderen

Zu einem Sammelband mit Vorträgen über Wilhelm Raabe und sein Umfeld

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende Sammelband mit Vorträgen zu Werk, Person und Umfeld Wilhelm Raabes lässt sich, ohne dramatisch zu überzeichnen, mit den Worten des Herausgebers als "aus der Not geboren" charakterisieren: Als 1997 das in der letzten Wohnung Raabes in der Leonhardstraße in Braunschweig etablierte kleine Literaturmuseum von der Schließung bedroht war, da angeblich kein Interesse des Publikums an Raabe bestünde, trat eine Gruppe Braunschweiger Germanisten diesem Vorhaben mit ihren genuinen Mitteln entgegen und organisierte einen Abend mit Vorträgen zu Raabe, der sich in der Folgezeit zu einer jährlich stattfindenden Veranstaltungsreihe entwickelte. Der von Herbert Blume herausgegebene Band "Von Wilhelm Raabe und anderen" präsentiert nun eine Auswahl dieser Vorträge, die dem Entstehungszusammenhang entsprechend thematisch und methodisch nur lose verbunden sind - das Band, das die Beiträge zusammenhält, ist allein Wilhelm Raabe.

Den Auftakt des Bandes bilden zwei Aufsätze, die sich der Person Raabes widmen. Zunächst nimmt Ralf Georg Czapla die "Ikonographie des Raabe-Porträts in der zeitgenössischen Photographie und Malerei" in den Blick. Anschaulich wird vorgeführt, wie wesentlich die visuellen Medien in die Konstitution des Bildes von Raabe in der Öffentlichkeit hineinspielen und damit zugleich die Rezeption seiner Werke beeinflussen. Dabei zeigt Czapla einerseits den Versuch der Interpreten, in den Zügen seines Gesichts jenen "Wahrheitsforscher" und Menschenfreund wiederzufinden, den sie auch aus seinen Texten herauslesen; andererseits zielt er auf die Analyse der bewussten Selbststilisierung ab, für die Raabe selbst Photographie und Porträtmalerei nutzte. Beispielhaft zeigt dies eine weit verbreitete Photographie: Raabe vertieft in eine lateinische Horaz-Ausgabe - die wohl, wie inzwischen plausibel gemacht wurde, seine altsprachlichen Kenntnisse bei weitem überstieg. Offensichtlich inszeniert sich Raabe hier also als einen jener Dichter, von denen "die Ideale des poeta doctus und des poeta vates zur Synthese geführt wurden".

Im Anschluss daran gelingt es Rolf Parr mittels eines diskursanalytischen Ansatzes die mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Motive der Begeisterung deutscher Schriftsteller für die Burenkriege sichtbar zu machen. Wie Parr überzeugend begründet, sind die symbolische Selbstverortung der Buren im 'Boden' sowie die Entwicklung der europäischen Nationalstereotypen als wesentliche Ursachen des literarischen Engagements zu begreifen. Von diesem Befund ausgehend rekonstruiert Parr, wie die Burenkriege in Form diverser Spendenaufrufe auch "in die Leonhardstraße kamen". Verantwortlich dafür sei, so Parr, eine verzerrende Lesart von Raabes "Stopfkuchen": Dieser sei eindimensional als Beispiel für deutsche Innerlichkeit verstanden worden, so dass es den Rezipienten plausibel erschien, "Raabe unter dem Idealismus-kompensierenden Burenenthusiasmus zu subsumieren".

Die beiden folgenden Vorträge fokussieren das Umfeld Raabes. Herbert Blume richtet sein Augenmerk auf die literarischen Arbeiten von Wilhelm Brandes. Brandes, Freund und unermüdlicher Werber für Raabe, dessen Name heute nur noch dem engeren Kreis der Raabe-Forscher ein Begriff sein dürfte, war neben seiner Tätigkeit als Gymnasialdirektor literarisch tätig und hat u. a. eine Vielzahl von Balladen geschrieben, die Blume im Hinblick auf ihre weltanschauliche und politische Grundierung einer präzisen Lektüre unterzieht. Brandes entpuppt sich dabei als ein konservativer, epigonaler Literat der wilhelminischen Epoche. Gerade diese Epigonalität allerdings macht es nach Blume ergiebig, sich dennoch mit Brandes zu beschäftigen, da dessen Werke weltanschauliche Positionen erkennen lassen, die auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts vorausdeuten.

Gabriele Henkel schlägt aus einer Marginalie kontexthermeneutisches Kapital: Im Nachlass Raabes fand sich kürzlich ein 1882 im Westermann Verlag erschienener Druck seiner Erzählung "Prinzessin Fisch", in dem fehlende Seiten von Raabe handschriftlich nachgetragen sind. Warum, fragt Henkel, bat Raabe nicht einfach den Verlag um ein vollständiges Belegexemplar, anstatt eine Abschrift anzufertigen und in den Pappband einzukleben? Diese Unstimmigkeit nutzt sie im Folgenden als heuristischen Ausgangspunkt, um Raabes Zusammenarbeit mit dem Westermann Verlag zu skizzieren. Diese sei zu Beginn der 80er Jahre derart von Missverständnissen und Spannungen geprägt gewesen, dass, so ihre Schlussfolgerung, Raabe sein Exemplar lieber eigenhändig ergänzte, als sich an den Verlag zu wenden.

Jan Eckhoff spürt dem Zusammenspiel von Moderne und Tradition in "Pfisters Mühle" nach. Ansatz seines Beitrages ist die Ablehnung des Romans durch Dr. Julius Rodenberg, den damaligen Herausgeber der "Deutschen Rundschau". Lakonisch vermerkt Raabe in seinem Tagebuch die Begründung für die Zurückweisung: "Es stinkt ihm zu sehr." Die zentrale These Eckhoffs ist nun, dass dieser störende Gestank "ein Ausdruck der Moderne" sei. Modern sei in "Pfisters Mühle" dabei zunächst das Thema der Abwasserverschmutzung, modern sei aber vor allem die Integration von Fachsprache in einen poetischen Text. Belegreich demonstriert die linguistische Interpretation Eckhoffs, wie Raabe seine literarische Ausdruckswelt mit terminologischen Elementen aufgeladen hat, um den Konflikt seiner Protagonisten zwischen Moderne und Tradition, zwischen "Schwefelwasserstoff und Gänsebraten", auch sprachlich auszubalancieren.

Anschließend versucht Jörg Kilian, "Pfisters Mühle" als Quelle der Sprachgeschichtsschreibung zu nutzen. Dementsprechend untersucht er die Dialoge des Romans daraufhin, inwieweit sie alltägliche Gesprächssituationen vom Ende des 19. Jahrhunderts widerspiegeln. Da allerdings zu konzedieren ist, dass literarische Dialoge immer ästhetisch gestaltet sind und daher Sprachalltag nicht mit dokumentarischer Genauigkeit abbilden können, differenziert er zwischen authentischen und repräsentativen sprachlichen Zeugnissen. Diese Unterscheidung erlaubt es Kilian dann, die Sprachhandlungen der Protagonisten von "Pfisters Mühle" als "Überrestquellen einer vergangenen Gesprächswelt" vorzuführen.

Den weitesten Rahmen unter den Beiträgen des Bandes spannt Eberhard Rohse, der in seiner detail- und kenntnisreichen Studie die "Ikonographie von Zeitlichkeit und Tod in späten Texten und Zeichnungen" Raabes untersucht. Richtet sich das Erkenntnisinteresse Rohses diesem Arbeitsvorhaben gemäß auch auf eine Vielzahl von zeichnerischen und literarischen Todesfigurationen im Werk Raabes, so liest sich doch der Teil seiner Spurensuche besonders spannend, der sich einer kleinen Federzeichnung aus Raabes Todesjahr widmet: Diese Zeichnung, die einen erschöpften, an einen Pfahl gelehnten Spaziergänger zeigt, sei eine zeichnerisch-imaginative Vergegenwärtigung derjenigen antiken Thanatosfigurationen, die den Tod nicht als Gerippe, sondern als Schlafes Bruder vorstellen - eine Zeichnung Raabes, in der Rohse eine produktive Rezeption von Lessings Abhandlung "Wie die Alten den Tod gebildet" erkennt.

Den Abschluss des Aufsatzbandes bilden zwei Beiträge, die sich auf Rezeptionsphänomene konzentrieren. Hans-Joachim Behr betrachtet das Mittelalterbild in der von der Raabe-Forschung bislang weitgehend ignorierten historischen Novelle "Des Reiches Krone". Seine erkenntnisleitende Frage dabei ist: Wie sind die zahlreichen historischen Ungenauigkeiten der Novelle zu erklären? Offensichtlich wollte Raabe, so erläutert Behr, gerade kein "mittelalterliches Sittengemälde" zeichnen. Die Situierung der Handlung in ein Pseudo-Mittelalter sei vielmehr als Versuch Raabes zu lesen, die von ihm durchaus erkannte Banalität der in "Des Reiches Krone" erzählten Liebesgeschichte mittels dieses Distanzierungsverfahrens vor dem Vorwurf unangemessener Idealisierung zu schützen.

Almut Vierhufe schließlich stellt den Schriftsteller, Journalisten und Kritiker Fritz Mauthner als Raabe-Rezensenten vor. Anfang der 80er Jahre, als Raabe von der Literaturkritik weitgehend ignoriert wurde, setzte sich Mauthner im renommierten "Berliner Tageblatt" in mehreren Buchbesprechungen engagiert für Raabe ein. Die eingehende Analyse dieser Rezensionen, die Vierhufe im Folgenden vorlegt, leistet einerseits einen erhellenden Beitrag zur Rezeptionsgeschichte der Werke von Raabe, und zeichnet andererseits ein Porträt Fritz Mauthners, das die wesentlichen Züge seines kulturellen und literarischen Verständnisses deutlich erkennen lässt. Besonderes Gewicht legt Vierhufe dabei naheliegenderweise auf die Charakterisierung seiner literarischen Position, die sie zwischen dem poetischen Realismus und dem frühen Naturalismus verortet.

Insgesamt, so ist resümierend festzustellen, ein gelungener Sammelband, der dem Leser einen aufschlussreichen Eindruck von der Qualität der Veranstaltungen im Raabe-Haus vermittelt. Die Nachteile, die sich einer thematisch so offenen Aufsatzsammlung gegenüber einem geschlossenen Diskussionsband leicht vorrechnen lassen, kompensieren die "Vorträge aus dem Raabe-Haus" durch ihre methodische und thematische Spannweite, die einige Anregungen zu weiteren Untersuchungen liefern dürfte.

Titelbild

Herbert Blume (Hg.): Von Wilhelm Raabe und anderen. Vorträge aus dem Braunschweiger Raabe-Haus.
Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2001.
296 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3895343544

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