Spazieren oder lesen?

Stephan Wackwitz' Essaysammlung "Selbsterniedrigung durch Spazierengehen"

Von Gustav MechlenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gustav Mechlenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spazieren gehen zählt zu einer der merkwürdigsten zivilisatorischen Errungenschaften. So gerechtfertigt auch die diätischen und sozialethischen Gründe sein mögen, der tiefere Sinn liegt nach Stephan Wackwitz nicht in Erholung und Gemütserheiterung, sondern in einer Erniedrigung des irdisch-sündigen Menschen. Das masochistische Manöver ist eine Kulturtechnik der "Selbstrechtfertigung und paradoxerweise sogar der Erhöhung eigener Bedeutung und Autorität". Wackwitz spricht dabei nicht von den intellektuellen Flaneuren, wie sie heutzutage in Berlin Mitte herumstreunen, sondern von extremeren Naturen, die sich eher an Bruce Chatwin oder Reinhold Messner halten und auch vor den Depressionsgürteln ostmitteleuropäischer Städte nicht zurückschrecken. Was der Mutige dort vorfindet, kann nur mit einer "Theologie der billigen Hässlichkeit" ertragen werden. Durch sie allerdings bekommt man auch in den übelsten Kaschemmen das "Gefühl, als könne keine und keiner von uns unwiderruflich aus der Welt fallen".

Diese nicht ganz abwegige Analyse stammt aus einem Band mit neun weiteren Essays, die Wackwitz seit 1989 geschrieben und teilweise in Zeitungen veröffentlicht hat. Allesamt sind es Stücke, die sich "nicht zwischen Autobiografie, Prosalyrik, philosophischer Abhandlung und Journalismus entscheiden können". Da geht es beispielsweise um linkspolitische Vergangenheitsbewältigung, Pokémon-Bildchen oder um die nie enden wollende Party der Junkies. Man könnte es Schwadronieren nennen, und es ist wie das Spazieren gehen vielleicht eine typisch deutsche Eigenart. Doch glücklicherweise ist alles vollkommen subjektiv erzählt und in erklärter Abgrenzung zur deutschen "Erektionsliteratur", wie sie sich von "Sturm und Drang" bis Maxim Biller immer wieder bedeutend gebärdet.

Wie unbedeutend die Themen sind, die Wackwitz zum Thema seiner Textstücke macht, zeigt besonders der Essay "Daily Records". Darin geht es um die Langeweile, die den achtjährigen Sohn des Protagonisten befällt. "Es war eigentlich nichts, aber es war in Wirklichkeit Das Nichts, dem sich mein Sohn an diesem Tag gegenübersah." Doch der Vater weiß, dass dieser Zustand nur vorübergehend ist. War für Wackwitz doch selbst die Entdeckung rettend, "dass es nichts Langweiliges mehr gibt, weil alles, auch die Langeweile, die Sinnlosigkeit, das Unglück, zum Thema eines dieser Stücke werden kann."

Dass der Intellektuelle alles theoretisierend einholen kann, muss natürlich noch nicht heißen, dass das Geschriebene nicht langweilen könnte. Das literarische Niveau, der Humor und die Belesenheit des Autors erleichtern jedoch die Entscheidung zur Lektüre vor einem sonntäglichen Spaziergang ungemein.

Titelbild

Stephan Wackwitz: Selbsterniedrigung durch Spazierengehen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
151 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3100910540
ISBN-13: 9783100910547

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch