Wie aber Gottes Sprache verstehen?

Johannes Fried lässt die modernen Naturwissenschaften in der Apokalyptik des Mittelalters fußen

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als das Niels-Bohr-Archiv Anfang Februar einige Dokumente zum umstrittenen Besuch Werner Heisenbergs in Kopenhagen 1941 veröffentlichte, war eines deutlich zu spüren: Das Unbehagen beider Physiker angesichts der plötzlichen Machbarkeit der Atombombe. Es ging um die drohende Selbstauslöschung des Menschen - die Apokalypse als Frucht der modernen Naturwissenschaften. Der kausale Zusammenhang von Physik und Weltende war so plausibel, dass er in der Nachkriegszeit eine weite Verbreitung erfuhr, im Film eine ganze Legion von größenwahnsinnigen Dr. Mabuses gerierte und vielen zu der festen Überzeugung verhalf, der Mensch werde sich demnächst selbst von diesem Planeten bomben. Noch heute lebt die rhetorische Keule "Schurkenstaat" von der Angst vor jener mondialen Katastrophe, zu der das Zusammenwirken von Bösewicht und skrupellosem Wissenschaftler fast unweigerlich führen muss.

Der Umkehrschluss - von der Gewissheit über einen bevorstehenden Weltuntergang zur exakten, profanen Wissenschaft - ist im Mittelalter zu verorten; eben jener Epoche, in der Glaube und Wissenschaft die konfliktreichste Phase ihrer Beziehung durchlebten; als die orthodoxe, wortwörtliche Interpretation der Heiligen Schrift ihre ersten Anfechtungen erfuhr, die Naturwissenschaften ihren neuzeitlichen Siegeszug aber noch nicht angetreten hatten.

Mit dem Christentum kam die Gewissheit, dass Hier und Jetzt nicht mehr lange sein würden. Die apokalyptische Vision des Johannes, mit der die Bibel schließt, lässt keinen Zweifel daran, dass das Ende bald käme, "denn die Zeit ist nahe" (Offb. 1,3). Doch über den genauen Zeitpunkt wird kein Wort verloren. Im Laufe der Jahrhunderte schien das Jüngste Gericht immer wieder kurz bevor zu stehen. Alle am Himmel sichtbaren Phänomene, die den in der Johannes-Offenbarung beschriebenen ähnelten, galten als untrügliches Zeichen für das kommende Ende. So wurde Kaiser Karl IV eines Morgens der Jüngste Tag angekündigt, als sein Kammerdiener das Lager von einem gewaltigen Heuschreckenschwarm umgeben sah. Doch blieb, wie in den zahlreichen ähnlichen Zeugnissen, das Ende aus.

Was die Frage aufwarf, wie sich denn nun himmlische (Vor-) Zeichen - dass Gott auf seine Weise zu den Menschen sprach, war unzweifelhaft - von trügerischen Phänomenen scheiden ließen. In Ermangelung profunder meteorologischer Kenntnisse stellte dies für die am Himmel erscheinenden Merkwürdigkeiten eine gewaltige Herausforderung dar. "Gerade in der knapper werdenden Frist bis zur Wiederkehr Christi, was durchweg hieß: in der eigenen Gegenwart, galt es, Vorsicht walten zu lassen, Wahres von Trügerischem unterscheiden zu lernen, die Erkenntnis zu schulen. Forschung tat not." Die Zeitgenossen übten sich in Zeichendeutung: Wann waren Wolken mehr als Wolken; Tiere mehr als Tiere? Kaiser Karl verhält sich vorbildlich: Er lässt aufsitzen, den Heuschreckenschwarm umreiten, und fertigt präzise Aufzeichnungen über Ausmaße und weiteren Weg der Plage an. Nur durch Beobachtung und Niederschrift war es möglich, den naturgemäßen Gang der Dinge festzustellen. Abweichungen davon mussten somit dem Eingreifen einer übergeordneten Macht entspringen und durften im Sinne einer nicht eben ausgereiften christlichen Zeichenlehre interpretiert werden.

Im Laufe des Mittelalters entwickeln sich die Zwillingsschwestern Astrologie und Astronomie zu den führenden Wissenschaften. Wichtige Ereignisse und Katastrophen der Vergangenheit, selbst die Geburt Jesu, lassen sich an bestimmten Konjunktionen festmachen und somit erklären. Die Gesetzmäßigkeit und die Wiederkehr der Sternkonstellationen erlauben, kommendes Geschehen vorherzusagen. Die verkündete Katastrophe blieb jedoch zumeist aus, wie im September 1186, als ganz Europa sich vor einer großen Konjunktion im Sternbild Waage fürchtete. Die Konkurrenz unter der gelehrten Christenheit war enorm, was die Berechnung und die Deutung der himmlischen Botschaften anging. Zumal die Kirche sah sich in der Defensive, machte doch diese Art der Welterklärung auf lange Sicht "Astronomen zu Wissenden und Theologen zu Narren".

Die Notwendigkeit, andere zu widerlegen, eigene Berechnungen so fundiert wie möglich zu erstellen, oder Fehlprognosen - nach dem Ausbleiben des Untergangs - fürderhin zu vermeiden, schuf in der allgemeinen Konkurrenzsituation erstmals den Drang, die Methoden selbst zu verbessern. Dieses Vorgehen war grundlegend neu. Ohne dass zunächst die rechtgläubige Interpretation der zu erhellenden Welt in Frage gestellt wurde, beschäftigte man sich mit der Entwicklung genauerer Messmethoden oder mit der Prüfung des theoretischen mathematischen Unterbaus der Wissenschaften. Diesbezügliche Mängel konnten durch den Kontakt mit der arabischen Wissenschaft oder das auf diesem Wege wieder zugänglich gemachte antike Schriftgut langsam beseitigt werden.

Was freilich nicht bedeutet, das biblisch verkündete Weltende sei auf eine symbolische Ebene verrückt und seiner direkten, wörtlichen Bedeutung beraubt worden, doch die Tendenz war unverkennbar: "Die warnenden Zeichen, die bislang den Untergang anzukündigen schienen, entsprangen nun natürlichen Ursachen: eben dem Lauf und der Strahlung der himmlischen Körper, waren wissenschaftlich erklärbar. Das Lesen am Himmel verwandelte die Schreckenszeichen in erklärbare Phänomene der Astronomie, der Meteorologie, des Lichts. Das Jüngste Gericht war zeitweise ausgeblendet, doch nicht aufgehoben. Es ließ sich fortan in neuer Weise kosmologisch verorten oder zumindest aus der täglich wahrnehmbaren Welt ausklammern. Die Astrologie machte es möglich." Das Ausbleiben des Weltgerichts förderte die theologische Hilfskonstruktion eines ersten, persönlichen Gerichtes, das dem kollektiven jüngsten Gericht vorausgeht. Das Ende konnte also weiter warten. Einen Versuch, diese Spannung aufzulösen, unternahm Isaac Newton. Er "rechnete [...] mit wiederholter Vernichtung allen irdischen Lebens und seiner Wiedererschaffung durch den Schöpfergott [...]; keinem Welt-, sondern einem Lebensuntergang." Womit er dem modernen Szenario eines Atomkrieges ziemlich nahe kam.

Mit diesem eindringlichen Essay - dicht geschrieben, und doch mit einem ausführlichen Anmerkungsapparat versehen - gibt Johannes Fried eine der vielen möglichen Antworten auf die Frage, wie das im Mittelalter so rückständige Europa seinen neuzeitlichen Siegeszug antreten konnte. Nach seinem Parforceritt durch das unwegige Gelände mittelalterlicher Wissenschaft und Theologie bleibt der Eindruck eines westlichen "Denkstils", der unmittelbar mit dem "Aufstieg" verbunden ist. Denn für andere Kulturräume wie Byzanz oder den islamischen Vorderen Orient lässt sich feststellen, dass dort "alle zur Moderne führende Wissenschaft abrupt im Mittelalter" endete. Die lateinische Christenheit jedoch entwickelte einen eigenen wissenschaftlichen Ehrgeiz, schon lange vor der protestantischen Ethik, die "gleichsam am Wege liegend" aus diesem Geist erst entstand. Auch das groteske Gefahrenmoment, das dieser Entwicklung innewohnt haben nicht erst Dürrenmatts Physiker erfahren: "Je näher die Welt an das Ende geführt wird, desto weiter wird uns das Tor ewiger Weisheit geöffnet", schreibt Gregor der Große. Alexander Neckam überliefert folgende Anekdote: Aristoteles, nicht nur für Thomas von Aquin "der" Philosoph schlechthin, habe seine subtilsten Schriften mit ins Grab genommen. Erst dem Antichristen enthülle es sich, und ob seiner Künste und seines Wissens werde er für einen Gott gehalten werden. Das Streben nach Wissen erschient einmal mehr als Steigbügelhalter der Apokalypse. Sind Aufstieg und Untergang also nicht voneinander zu trennen?

Titelbild

Johannes Fried: Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
250 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3406482090

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