Ein Land mit Widersprüchen

Der irische Erzähler Joseph O' Connor den "InishowenBlues"

Von Ulrich SonnenscheinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Sonnenschein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Traum und die Wirklichkeit - zwischen diesen beiden Welten hat die irische Literatur schon immer ihren Platz gehabt. Selbst die Erzähler aus keltischer Vorzeit, die heute keiner mehr beim Namen nennen kann, haben ihre Sagen und Märchen zwischen dem hier und jetzt und einem fernen, mythischen Reich der Phantasie angesiedelt, und damit jene Grenzen ignoriert, auf die das Genre des Märchens seine Existenz gründet. Selten waren diese Fabeln lehrreich, nur manchmal mit einer offensichtlichen Symbolik ausgestattet, dafür aber immer höchst wundersam. Bis heute setzt sich diese Erzähltradition fort. Selbst bei Yeats, Joyce und Beckett finden wir diese Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem bizarr Fremden.

Joseph O´Connor zählt noch zu den jüngeren Autoren Irlands, und ist, obwohl er seinen ersten Roman bereits 1991 veröffentlichte - und seitdem drei weitere - zahlreiche Kurzgeschichten, Sachbücher und Theaterstücke geschrieben hat, hier bei uns noch immer ein Unbekannter. Zumindest wenn man ihn mit seiner jüngeren Schwester Sinead O´Connor vergleicht, die sich mit feiner rauchiger Stimme und kahl geschorenem Kopf in die Herzen der Fans sang. Was beide verbindet ist eine kompromisslose Haltung gegenüber der nordirischen Tragödie, der martialisch bewachten Grenze, die nur dazu da ist, etwas zu trennen, was keiner Trennung bedarf und gegenüber der allgemeinen Akzeptanz des Gewaltniveaus, das einmal als moderat bezeichnte wurde. Schließlich sterben hier weniger Menschen im Jahr an Gewalttaten, hieß es, als in New York City allein an einem Tag. Auch in Inishowen Blues, der literarischen Reise ans Ende der Welt, wird diese Grenze überschritten, und da scheint sich der Erzähler zurückzuziehen. Er gibt den Worten Raum, indem er versucht, ganz sachlich und nüchtern zu klingen. Und gerade darin entsteht jene Anspannung, die beide Seiten gefangen hält, aber auch die Angst, die man beim Überschreiten dieser Grenze immer wieder spürt.

"Der Schwarze winkte Aitken mit der Hand zu. "Was?" fragte Aitken. Dann zeigte er auf etwas. "Was ist denn los?", rief Aitken. Der Mann deutete mit heftig ausgestrecktem Finger auf das Auto. "Ich verstehe sie nicht." "Standlicht" rief der Soldat. "Machen sie das Standlicht aus". Aitken griff nach dem Hebel, aber seine Hand rutschte aus, und er schob den Hebel auf Fernlicht. Ein greller Schein flutete über den Asphalt. Die drei Soldaten brachten sofort ihre Gewehre in Anschlag. Die Hand des Offiziers fuhr an den Pistolenhalfter.

"Ausmachen" brüllte der schwarze Soldat und machte einen Satz nach vorn, das Gewehr auf die Windschutzscheibe gerichtet. "Ausmachen hab ich gesagt!" "Schon gut!" schrie Aitken. "Der Soldat brüllte: Jetzt, hab ich gesagt. Sofort. Aus!"

Dunkelheit breitete sich wieder über den Platz."

Eine kleine, alltägliche Begebenheit, die alle Beteiligten schon bald vergessen haben werden, zumal wenn sie dem Konflikt nur auf begrenzte Zeit und als Außenstehende begegnen. Für alle die jedoch, deren Alltag dieser Konflikt bestimmt, die schon lange nicht mehr wissen, auf wen sie sich verlassen können, und denen es nur darum geht, in Frieden nebeneinander leben zu können, schüren Ereignisse wie dieses den Hass. Den Hass auf die Ausweglosigkeit der Situation, auf die Unnachgiebigkeit und die Unsicherheit. Und dann laufen sie denen in die Arme, die das Volk nach dem einfachsten Kriterium, dem der Religionszugehörigkeit in zwei Gruppen spalten wollen.

Joseph O´Connors Geschichte bezieht keine Position und ist doch hochmoralisch. Einer der Soldaten erweist sich als Ire, dessen Frau bei einem Attentat schwer verletzt wurde und seitdem im Rollstuhl sitzt. Eine Frau, die an der Grenze lebt, wurde gerade überfallen und man vermutet, dass ein flüchtiger Strafgefangener sich in der Gegend aufhält. Die Vorurteile zerschellen an gut begründeten Details und dennoch bleibt eine stille Anklage zurück, die keinen Schuldigen mehr benennen kann.

So wie er die Grenzen der literarischen Genres mühelos überwindet, wechselt Joseph O´Connor auch die Perspektive. So spielt sein Roman nicht nur in Irland, sondern zu gut einem Drittel auch in Amerika. Denn von dort kommt Ellen Donnolly, Frau eines untreuen Schönheitschirurgen, Mutter zweier Kinder, reich, unglücklich und krebskrank. Sie sucht ihre Wurzeln, denn vor 40 Jahren wurde sie unehelich in Inishowen, Donnegal, der nördlichsten Provinz der Republik Irland geboren, und wie viele andere Kinder, die die streng katholische Gesellschaft nicht integrieren konnte, für wohlhabende Amerikaner zur Adoption freigegeben. Doch sie sucht ihre Wurzeln genau an dem Ort, an dem Martin Aitken seine Zukunft verlor. Hier liegt der Sohn des Polizisten begraben, dem sie nach einem Schwächeanfall in Dublin vor die Füße stürzte. Martin ist Ire ohne darüber nachzudenken. Sein Stolz ist impulsiv, seine Verachtung ungebremst. Er hadert nicht mit seinem Schicksal, sondern mit seinem Alltag, der ihm mehr und mehr durch die Finger rinnt seit sich seine Frau von ihm getrennt hat. Ellen dagegen sucht das mythische Irland jener Vergangenheit, die ihr entrissen wurde. Sie engagiert sich aus Amerika für ihre eigene Form der Gerechtigkeit, und hat dabei immer nur ihre unbekannte Mutter im Kopf. In Amerika wiederum sieht man die kleine grüne Insel mit ganz anderen Augen.

"Yeats, Joyce, Oscar Wilde. So wie Ellen über das Land der Kobolde redete, könnte man meinen, kein Land der Welt habe jemals einen Schwindler hervorgebracht, der fähig war, mehrsilbige Adjektive an seine Neurosen zu hängen und das Ergebnis dann als Literatur zu bezeichnen. Es brachte ihn immer zum Lachen, wie es ihr gelang, jeden bedeutenden Künstler in die irische Ecke zu drängen. Scott Fitzgerald? Ire. Eugene O´Neill? Ire. Henry James? Ein waschechtes Kind der grünen Insel. Wahrhaftig, es war als wäre er mit Ted Kennedy verheiratet. Eines Tages würde sie noch behaupten, Mahler sei Ire. Wenn er genau darüber nachdachte, war er nicht sicher, ob sie das nicht schon gesagt hatte. Beim Feuermachen jetzt dachte er an eine der ersten Reisen, die sie nach Irland gemacht hatten. Nach Galway und an die Westküste. All diese Düsternis, dieses Beckett'sche Nichts, die entsetzliche Bedienung in den talgstinkenden Restaurants, die verblüffenden Zahnprobleme der Einheimischen, ihre schwerfällige Art zu sprechen, ihre rundheraus krankhafte Fixierung auf den Tod und längst Vergangenes, die monotone Traurigkeit ihrer endlosen Lieder. Überall diese Burgruinen, die umzukippen drohten, wie die Betrunkenen auf der Dorfstraße. Gab es noch ein Land, das so bewehrt und so durch und durch und rettungslos kriegerisch war? Während die anderen Touristen ringsum in Oh und Ah ausbrachen, war Amery insgeheim über die Wildheit frappiert, die so gut zu diesem Land zu passen schien. Die Bäume in Connemara, die, von den atlantischen Stürmen gepeitscht und gebeutelt, in jedem erdenklichen Winkel zum Boden wuchsen, nur nicht senkrecht. Wie jede Stadt im Westen von Cork ein keltisches Kreuz auf dem Hauptplatz hatte, das an irgendeine grässliche historische Abschlachterei erinnerte, die die eine oder andere Seite begangen hatte. Amery war es herzlich egal, wer für was verantwortlich war, und er vermutete, denen, derer gedacht wurde, ging es ähnlich."

Irland ist in diesem Roman, der im ganzen der Struktur einer irischen Ballade sehr nahekommt, ein Land, das in den Widersprüchen lebt. Martins Leben ist auf seine Rudimente zurückgeworfen. Seine Karriere ist am Ende, soeben noch hat er seinen Alkoholismus im Griff und ein stadtbekannter Krimineller will ihn erschießen. Ellen dagegen ist sanftmütig, von ihrer Ehe frustriert, mal wieder auf einer ihrer spontanen und geheimen Reisen, die ihrem Mann Amery den Schlaf rauben und von denen sie immer wieder zurückkehrte. Bislang. Denn nun ist sie todkrank und schickt Amery, dessen Freundinnen immer jünger werden, die Scheidungspapiere. In Irland, so hofft sie, wird sie ihre Ruhe finden. Zwischen Dublin und dem ländlichen Donnegal aber liegen Welten. Ähnlich wie zwischen Irland und den USA oder zwischen Kunst und Leben. Joseph O´Connors Buch um Liebe, Tod und Leidenschaft, das immer wieder spannend wie ein Thriller, dann gefühlvoll und nachdenklich, dann wieder urkomisch und nahezu grotesk zwischen den Welten diejenige wählt, die ihm gerade passt, bleibt souverän. Es lässt sich nicht festlegen und gewinnt dadurch an Volumen. Zwischen Krimi, Ballade, Liebesgeschichte und der Betrachtung des irischen Regens findet O´Connor immer die richtigen Worte. Auch wenn man den Charakteren misstraut, wenn man sie nicht akzeptieren will als wirkliche Menschen, dann liegt das daran, dass sie keine sind. Etwas hinterhältig stehen diese maskierten Nebenfiguren wie Dick Spiggot oder Morris Nun nur dafür ein, dass das clowneske Element seinen Platz findet, und sich schon über die sprechenden Namen entlädt. Dick Spiggot ist eine Made im Speck - mit eigenem Flugzeug und eigener Insel - und außerdem ein Ehemaliger von Ellen. Morris Nun ist unschuldig, dick und Badezimmerverkäufer, und überdies der neue Mann von Martins Ex-Frau Valerie. Mit ihnen treibt O´Connor ein wildes Spiel, das sich dramatisch von der Melancholie der Geschichte abhebt. Denn darin liegt der eigentliche Sinn der Kunst, Variation zu sein, etwas anderes denken zu können, und den Leser damit vortrefflich zu unterhalten.

"Er ließ den Blick über die Bücherregale wandern, die mit Leinenausgaben von Romanen gefüllt waren. Was fand sie bloß daran? All diese Geschichten von Menschen, die es nie gegeben hatte und die auch keine große Rolle gespielt hätten, wenn sie auf der Welt gewesen wären. Es war ihm völlig schleierhaft. Wie konnte man sich so über Dinge erregen, die bloß erfunden waren, während die wirkliche Welt nur darauf wartete, dass man sie am Schlafittchen packte? Das eigene Leben bot Zauber genug. Was war überhaupt der Sinn der Kunst?

"Inishowen Blues" bietet diesen Zauber eines eigenen Lebens. Sicher, auch hier spielen die Figuren keine große Rolle, und täten dies auch nicht, wenn sie auf der Welt gewesen wären. Aber gerade darin liegt ihre Größe. Sie sind insofern archetypisch, als dass sie sich jeder Einordnung wiedersetzen, die über das Individuelle hinausgeht. Sie stehen für nichts als sich selbst und haben nicht einmal die Aufgabe beispielhaft zu handeln. Und plötzlich sind sie Teil jener wilden, kargen irischen Landschaft, die nicht gastlich und trotzdem über alle Maßen faszinierend ist, die einen nicht mehr loslässt, obwohl man friert im rauen Westwind noch feucht vom letzten Regen. Joseph O´Connor stellt sein Irland nicht aus, er stellt es dar, und ist darin bei aller Hassliebe immer auch ein wenig sentimental. Insofern hat der Verlag gut daran getan, dem einfachen Inishowen der Originalausgabe einen Blues anzuhängen, der Trauer, Spott und Sehnsucht literarisch vereint.

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Joseph O'Connor: Inishowen Blues. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Esther Kelly.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
480 Seiten, 20,40 EUR.

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