Nachtschwärmer auf Seelenreise

Jochen Schimmang überzeugt von neuem als großartiger Erzähler

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Murnau hat sich ganz schön verändert. Wer sich an den revolutionären Protagonisten des 1979 erschienenen Schimmang-Debüts "Der schöne Vogel Phönix" erinnert, wird mehr als erstaunt sein, 23 Jahre später einer wohlbestallten Figur gleichen Namens zu begegnen - dem Ich-Erzähler in Schimmangs neuem Roman "Die Murnausche Lücke". Der Begriff Lücke spielt nicht etwa auf die lange Zeit des Murnauschen Schweigens an, sondern bezeichnet ein mathematisches Problem, das nach dem Helden benannt ist. Und siehe da: Mit Vandenberg und Ruben treten noch weitere Figuren aus anderen Schimmang-Werken auf. So bleibt alles in allem zweifelhaft, ob es sich hier wirklich um eine Fortsetzungsgeschichte handelt. Denn außer einigen zeitlichen und räumlichen Koinzidenzen scheint die beiden Murnaus nicht viel zu verbinden.

Murnau hat, so heißt es an einer Stelle, "sein Berliner Quartier gewechselt und die Zentren der Revolution verlassen". Ortswechsel, einsame Wallfahrten, rastlose Melancholiker auf der Suche - das sind seit jeher die Themen des Schriftstellers Jochen Schimmang. Seine Helden durchstreifen den Alltag, entdecken auf ihren Umwegen so mancherlei und bisweilen sich selbst. Auch Murnau befindet sich auf einer immerwährenden Seelenreise. Als Wissenschaftler unumstritten genial und daher schnell unabhängig, betreibt er die Wahrheitsfindung als hübsche, beinahe kindliche Spielerei.

In einer geschickten, unverkennbar an Marcel Proust geschulten (doch gleichwohl nie epigonalen) Schreibweise verlebendigt Schimmang die Dämmerzustände dieses verträumten Mathematikers. Murnau ist ein Schlafloser, den die Forschung wachhält. Als neugieriger Beobachter in einem Feinschmecker-Nachtlokal mit dem bezeichnenden Namen "Insomnia" lässt er die Welt auf sich wirken. Seine Liebe zur russischen Kellnerin Katharina bildet den Rahmen für zahlreiche Rückblenden, die gestochen scharfe Ansichten der 70er und 80er Jahre eröffnen. In seiner Studentenzeit liebt der Held Anna, doch verliert sie bald schon durch seine Leidenschaft zur Mathematik: Er betrügt seine Freundin nächtelang mit der aufregenden Wissenschaft. Fortan tummelt sich Murnau auf zahlreichen Forschungsfeldern, in der akademischen Treibhausatmosphäre von Cambridge heiratet er schließlich die Tochter eines Kollegen. Einsam kehrt er zuletzt in die Stadt seiner Kindheit zurück, um eine zugleich populäre und wissenschaftliche Geschichte der Mathematik zu schreiben. Wir erfahren so einiges über Glanz und Elend der Provinz.

"Die Murnausche Lücke" spielt überwiegend in Ostfriesland, der alten und neuen Heimat des Autors. Wer Jochen Schimmang vor allem als frechen Zeitgeist-Kolumnisten oder virtuosen Chronisten der Urbanität kennt (zuletzt in seinem lesenswerten Köln-Buch "Vertrautes Gelände - besetzte Stadt"), der sei beruhigt. Zwar ereignet sich ein großer Teil dieses neuen Romans vor der Kulisse von Deichlandschaften - doch es gibt darin auch wunderschöne Momentaufnahmen von Hamburg, Cambridge und Amsterdam. Jochen Schimmang ist selbst nach seinem Rückzug aufs Land der große Flaneur unter den deutschen Gegenwartsautoren geblieben. Einer, der genau beobachtet und Gefühlswelten in einer sinnlichen Sprache zu beschreiben vermag. So überrascht es nicht, dass sich Murnau auf seinen Annäherungen an die Seligkeiten des Erdendaseins als Wahrnehmungskünstler und Geschichtenerzähler zugleich bewährt. Er spannt einen weiten Bogen, zeigt geglückte Lebensentwürfe und bittere Schicksale. Wir erfahren die tragische Geschichte des Wunderkinds Enno, das an einer Überdosis von Barbituraten stirbt, und hören von der Seelenverwandtschaft zum Anästhesisten Dr. Winter, der plötzlich verschwindet, um ein besseres Leben zu führen.

Trotz aller Selbstreflexionen und Introspektionen sind Gefühl und Gesellschaft in diesem Roman meisterlich vernetzt. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das Ineinander von Alltag und Empfindung in der unglücklichen Liebe des Erzählers zur schönen Journalistin Hilke Gronau. Im November 1989 sitzen die beiden über Dessertteller und Digestif in einem stimmungsvollen norddeutschen Gourmet-Restaurant - sie im Designerkostüm, er im Designeranzug. Als die Bilder vom kollektiven Rausch der Maueröffnung in die kulinarische Oper hineinwirken, wird klar: Die wunderbaren 80er Jahre sind schon wenige Wochen vor ihrem kalendarischen Ende zerronnen. Die große Party ist vorbei.

Hin- und hergerissen zwischen Melancholie und Euphorie, ist Murnau wie viele Helden bei Schimmang auf der Suche nach sich selbst. Wenn er scharfen Auges Welterfahrung sammelt und ironisch von seiner Sehnsucht erzählt, dann möchte man sich für ein erlösendes Lektüreerlebnis bedanken: Was für ein Glück, diesem Nachtschwärmer auf seinen Streifzügen zu folgen. Was für ein Glück, Jochen Schimmang zu lesen.

Titelbild

Jochen Schimmang: Die Murnausche Lücke. Roman.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2002.
176 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 388423191X

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