Außen hui, innen pfui - oder umgekehrt?

Über Colin McGinns ästhetische Grundlegung einer "modernen" Ethik

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Warum eigentlich sind die Elben im "Herrn der Ringe" von geradezu überirdischer Schönheit? Und die Orks auch äußerlich widerliche Finsterlinge? Warum erscheint es uns selbstverständlich, dass die "Guten" im Film meist von anziehenden Darstellern gespielt werden und umgekehrt?

Ein Zusammenhang von Tugendhaftigkeit und innerer Schönheit wird schon seit der Antike behauptet. Die "schöne Seele" zeichnet sich demnach durch ethische Reinheit aus - und der Unhold durch seelische Hässlichkeit. Die Tradition der Kalokagathie, des Moralisch-Schönen, reicht von Platon und Plotin über Thomas Reid, Shaftesbury bis hin zu Goethe und Schiller. Und Colin McGinn. Der an der Rutgers University, New Jersey, lehrende britische Philosoph, der durch seine Außenseiterposition im Diskurs der Bewusstseinsforschung bekannt wurde, versucht diese verzopft scheinende These für unser Zeitalter der Schönheitschirurgie zu revitalisieren und zu einer "Ästhetischen Theorie der Tugend" zu erweitern. In seiner bereits 1997 in England erschienenen Studie "Ethics, Evil, and Fiction", die nun ins Deutsche übersetzt wurde, bemüht sich McGinn um die ästhetische Grundlegung einer "modernen Ethik": Dieser soll der Kunst, vor allem Literatur und Film, wichtiges Studien-, Lern- und Trainingsmaterial bereitstellen.

Man sieht: McGinn bedient sich ungeniert aus der Mottenkiste der Philosophiegeschichte. Und setzt enorm viel voraus. Einen von allen Kultureinflüssen unabhängigen Schönheitsbegriff beispielsweise. Ebenso einen robusten, von keinerlei Skeptizismus angekränkelten Begriff von Ethik und vom Guten. Überzeugend ist noch seine in der Tradition Kants und Husserls stehende Widerlegung psychologistischer Moraltheorien: Vom Sein zum Sollen führt eben kein Weg, auch kein neuronaler. Ist damit die Frage nach dem Guten und wie wir es erkennen können, schon geklärt? Für McGinn, den ethischen Optimisten, der sich gerne auf die "Volkspsychologie", den "gesunden Menschenverstand" beruft, schon: Ethische Urteile seien sogar noch sicherer als empirische, nämlich ähnlich sicher wie Urteile der Mathematik und Logik. Letztlich stimmten alle Menschen in den wesentlichen Fragen der Moral überein, wodurch sich auch erkläre, warum die Ethik seit den Griechen keine wesentlichen Fortschritte gemacht habe: Was damals gut oder schlecht war, sei es eben auch heute. Im menschlichen Geist seien die Normen der Ethik verwurzelt wie Chomskys Normen der Grammatik. "Es ist jedenfalls ein schlichtes Faktum, dass es viele Dinge gibt, die in moralischer Hinsicht offensichtlich falsch sind - Mord, Folter, Diebstahl, Verrat -, und jeder, der in dieser Hinsicht eine andere Meinung hat, ist entweder nicht aufrichtig und konfus."

Heilige Unschuld, möchte man da ausrufen. Soviel unbekümmerter Reduktionismus verblüfft denn doch. Der ernüchternde Blick in ein Geschichtsbuch (oder eine Zeitung), der darüber aufklärt, was schon alles für gut oder böse gehalten wurde (und wird), blieb McGinn bislang offenbar erspart. Und lassen sich nicht Beispiele konstruieren, in denen "offensichtlich falsche" Handlungen plötzlich gar nicht verwerflich, sondern sogar geboten scheinen (Stichwort "Tyrannenmord")? Bedenkenswert erscheinen dagegen McGinns Analysen des "bösen Charakters": Dieser wolle nicht einfach nur den Schmerz oder gar den Tod des Opfers. Vielmehr ziele sein Sadismus auf den Willen des Misshandelten. Letztlich, so McGinn, möchte der an existenziellem Neid leidende Unhold dem Opfer den Willen bzw. die Lust am Leben austreiben: "Der Sadist ist in der Lage, seine eigene Bindung ans Leben mit neuer Würze zu genießen, während er eine andere Person dazu bringt, diese Bindung aufzugeben" und sich aufgrund seiner Qualen nur noch den Tod zu wünschen; eine Lust, die um so größer wird, wenn sich das Opfer wiederum durch Tugend und Unschuld auszeichnet. Gemilderte Formen dieser sadistischen Lust zeigen sich dieser Theorie zufolge in Phänomenen der Verführung und der Überredung.

Wenn Tugendhaftigkeit zweifelsfrei bestimmt werden kann, warum nicht auch die Attraktivität der jeweiligen "Seele"? McGinn verweist auf den bei moralischen Urteilen in der Tat auffällig beliebten Gebrauch ästhetischer Bewertungen wie etwa "widerlich", "ekelhaft", "hässlich", "abscheulich", aber auch "rein" oder "makellos". Charakter und Persönlichkeit eines Menschen, den wir moralisch verurteilen, sein "Inneres" also, erscheinen uns meist als hässlich oder widerwärtig. Das mag mitunter auch auf die Wahrnehmung seines Äußeren abfärben. Umgekehrt haben psychologische Untersuchungen längst unsere Neigung belegt, äußerlich attraktiven Menschen auch Intelligenz und Tugend zu unterstellen. Literatur und Film bedienen sich dieses Phänomens, indem sie die Vertreter des Bösen in der Regel von wenig ansprechendem Äußeren zeigen, während sich die Guten meist auch durch äußerliche Attraktivität auszeichnen. Das Äußere soll dem Rezipienten den Charakter der Figur symbolisieren und im Fall des Guten das Identifikationsangebot, im Fall des Bösen die Ablehnung verstärken. Manche Kunstwerke gewinnen ihre Reize freilich gerade aus der Umkehrung dieses Schemas.

Belegt also die Kunst die These von der ästhetischen Grundlage ethischer Urteile? Für McGinn leistet sie sogar noch mehr: "Literatur bezweckt unter anderem, Charaktere in solcher Weise darzustellen und erkennbar zu machen, dass sie zu moralischer Wertung auffordern: Wir werden dazu gebracht, uns in den durch Gefühle und Handlungen zum Ausdruck kommenden Charakter einer Person zu versetzen, und darauf reagieren wir mit verschiedenen - affektiven und kognitiven - Werthaltungen. Literaturwissenschaft und Literaturkritik haben unter anderem den Zweck (oder sollten den Zweck haben), die ethische Bedeutung der Handlungen und Erlebnisse literarischer Figuren deutlich zu machen." Können fiktive Geschichten also dazu dienen, unsere praktische Vernunft zu erziehen?

Bei seiner provokanten Revitalisierung frühaufklärerischer Kunstkonzepte (die Literatur als nützliche Vermittlerin trockener Sittenlehren) beruft sich McGinn auf zwei literarische Beispiele: Oscar Wildes "Dorian Gray" und Mary Shelleys "Frankenstein". McGinns luzide Interpretationen rekonstruieren plausibel, wie beide Romane ihre Qualität aus der Umkehrung unserer Wahrnehmungsautomatismen beziehen: Vordergründig scheinen sie dieser in der "Volkspsychologie" verankerten Idee von der "schönen Seele" zu widersprechen, letztlich bestätigen sie sie freilich. Dorian Gray ist äußerlich von blendender Attraktivität, sein Inneres aber, wie sein (Seelen-)Porträt zeigt, von abgrundtiefer Hässlichkeit bzw. Boshaftigkeit. Umgekehrt verhält es sich dagegen bei Frankensteins Monster: Ähnlich wie beim Glöckner von Notre Dâme, dem Elefantenmenschen in dem Lynch-Film oder anderen "guten Monstern" wird hier unsere stereotype Wahrnehmung in Frage gestellt: Die hässliche, aus Leichenteilen zusammengesetzte Kreatur zeichnet sich durch eine ursprünglich gute Seele aus; die wirklichen Monster, das sind die anderen, die Menschen.

Verdienen diese Romane also das Prädikat "ethisch wertvoll", weil sie unsere stereotypen Wahrnehmungsmuster in Frage stellen? Zweifellos handelt es sich in beiden Fällen um zutiefst "moralische" Literatur (was auch immer die Selbstbeschreibung von Wildes Werk behaupten mag). Was aber ist mit Romanen, in denen keine eindeutig "guten" und "schlechten" Charaktere anzutreffen sind, sondern nur "gemischte"? Und was mit den vielen, literarisch hoch angesehenen Texten, vom "Werther" über "Madame Bovary" bis hin zu Nabokovs "Lolita", in denen die Moral nur jenes lustvolle Spiel mit amoralischen Phantasien, Wünschen und Triebansprüchen bemänteln soll (etwa durch den Untergang des Protagonisten am Ende), das die Lektüre in der Leserpsyche in Wahrheit zu entfachen bezweckt?

Kunst liefert weder Illustrationen noch Lehrmaterial für die Moral, und die praktische Vernunft gründet auch nicht auf der ästhetischen Urteilskraft. Erhellen dürften sich die Zusammenhänge von Ethik und Ästhetik nur lassen, wenn man berücksichtigt, inwiefern Kunst ein (sei es offener, sei es verhüllter) Exzess ist, eine Verführung, eine lustvolle Übertretung - die dem Leser möglicherweise gar nicht bewusst wird, die er vielleicht sogar entrüstet ablehnte, machte man ihn darauf aufmerksam.

McGinns alles andere als "moderne" Ethik führt dagegen zwangsläufig zu einem vormodernen, wenn nicht reaktionären Kunstverständnis. Dass er im Begriff der Harmonie, dem Ideal der Klassik, den "wichtigsten ästhetischen Begriff überhaupt" erkennen will, ist kein Zufall. Wer wie McGinn einen Kausalzusammenhang zwischen "ästhetischer Verunreinigung" und moralischer postuliert, wird seine Warnung vor Actionfilmen, Sportwettkämpfen und dem Leben in der "schmutzigen" Großstadt verstehen. Wem dagegen die ästhetischen Werte der Romantik und Moderne näher stehen, wird nicht nur anderes (andere Kunstwerke, aber auch andere "Seelen") schön finden. Er wird auch Robert Musils Behauptung verstehen, "dass die Kunst das Unmoralische und Verwerflichste nicht nur darstellen, sondern auch lieben dürfe."

Titelbild

Colin McGinn: Das Gute, das Böse und das Schöne. Über moderne Ethik.
Übersetzt aus dem Englischen von Joachim Schulte.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2001.
294 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3608919686

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