Langeweile ist noch kein Grund für den Klassenkampf

Zwischen Punks, Posern und Poeten: André Kubiczeks großartiges Romandebüt

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch eine Kreuzung kann eine Demütigung sein: Berlin, Schönhauser Ecke Kastanienallee - wer hier über die Kreuzung geht, muss schon wissen, welche der drei Straßen, die sich hier kreuzen, er nehmen soll. Für Less jedoch, den Liebe und Langeweile aus dem Harz in die Hauptstadt der DDR getrieben haben, wird die erste Großstadtimpression zur Erniedrigung. So wie er in seinem jungen Leben ziellos umher eiert, so planlos bewegt er sich im Berliner Verkehrsdschungel und wird prompt von quietschenden Bremsen, wütendem Hupen und bösen Blicken auf sein nicht-metropolenkonformes Verhalten rüde hingewiesen: "Doch das Schlimmste war das Palaver, das sofort einsetzte, ein Wortschlamm, in dem wie Glasscherben einige derbe Worte im Berliner Dialekt mitschwammen. Für eine Sekunde stand die Stadt still - leider hielt sie dabei nicht die Klappe -, und er war ihr Zentrum, ein Fremder, ein Provinzheini mit abstehenden Haaren und schlotternden Klamotten."

In Berlin wohnt der ostdeutsche Teenager, dem die Provinz wie Kaugummi in den Haaren klebt, bei seinem Onkel Wanja, "ein[em] bärtige[n] Übersetzer, mehr aber noch ein russophiler Aquarellierer mit Teilzeittochter". Eben dessen Teilzeittochter, die selbstbewusste Cousine Radost, war der eigentliche Grund für Less' Flucht in die Großstadt. Eines schönen Junitages, noch zu Zeiten der Harzer Provinz, öffnete ihm ein Überraschungsbesuch der Cousine die Augen dafür, dass sie über all das verfügte, was er an seiner bis dato nur halbherzig, ja fast mitleidig begehrten Schulfreundin Delia vermisste: "Taille, Hüfte und Busen, weit wichtiger aber: Sie hatte Stil. [...] Radosts Äußeres war kombinierbar mit seiner eigenen Aufmachung." Während Delias Knie, im Sportunterricht nüchtern zur Kenntnis genommen, "nichts als funktionierende Gelenke" darstellten, waren Radosts "rund und elegant zugleich" und von daher äußerst fesselnd. Nach zahlreichen Martinis im Biergarten - Bier war ja was für Proleten - will ihm die laszive Base nicht mehr aus dem Kopf. Deshalb der Sprung in die große, graue Stadt, dorthin, wo die Angebetete mit ihrem Onkel in der Leipziger Straße eigentlich zu wohnen pflegt. Als er dort ankommt, ist Radost zwar bereits ausgezogen, aber dafür kann Less die ersten zögerlichen Kontakte zu anderen hübschen Berlinerinnen knüpfen - besser gesagt: sie knüpfen den Kontakt zu ihm.

Der 1969 in Potsdam geborene André Kubiczek erzählt mit seinem Debütroman "Junge Talente" eine meisterhaft gearbeitete Coming-of-Age-Story, angesiedelt in den letzten Jahren der DDR, authentisch, mitreißend und mitunter tragisch-komisch in Szene gesetzt. Das junge Autorentalent begleitet seinen sympathisch unheroischen Helden auf seiner pubertären Odyssee zwischen Punks, Posern und Prenzelberg-Poeten und zeigt dabei, dass es trotz der Unterschiede in den Biographien von Ost- und Westdeutschen letztlich die gleichen Themen sind, die die heranwachsende Generation beschäftigt: Dazugehören oder nicht, und wenn ja, wozu?

Mit einer ausgesprochen bildhaften, reflexiven und dabei locker aus dem Ärmel geschüttelt wirkenden Sprache entwirft der Autor das Bild einer trostlosen und unwirtlichen Großstadt, die für den suchenden Less auch keine Alternative zur provinziellen Heimat darstellt. Zwar ist die Bedrohung durch staatliche Repression als Hintergrundrauschen in dieser Plaste-und-Elaste-Kulisse ständig präsent, die großen Gesten des politischen Widerstandes bleiben jedoch aus - oder erscheinen in Form überzeichneter Stereotypen. Bei Kubiczek findet man das Politische vorwiegend im Privaten. So stellt sich für Less niemals die Systemfrage, auch wenn er vornehmlich im Kreis revolutionärer Subjekte verkehrt. Ihn interessiert das Jenseits der Mauer aus gutem Grund: dort gibt es die bessere Musik und die cooleren Klamotten. Und wenn er dann britischen Punkrock konsumiert, eine Musikrichtung, die in den Arbeitersiedlungen Englands geboren wurde, dann ist für ihn klar, dass sich ihr destruktiver Gestus in die DDR nicht ohne Schwierigkeiten importieren lässt: "Langeweile galt offiziell noch nicht als Grund für den Klassenkampf, und auch bei Marx, Engels, Lenin stand nichts davon, dass eine Revolution anzuzetteln sei aus Überdruss, expressionistischer Weltwahrnehmung oder Liebeskummer."

Bei aller Neigung zum Grotesken verliert die Geschichte niemals an Bodenhaftung - also ganz anders als bei Thomas Brussigs satirischer Geschichtsneuschreibung "Helden wie wir", mit dem man Kubiczeks Buch wohl vergleichen wird. Es ist gerade diese Kombination von Satire, Artistik und Authentizität, die den Romanerstling auszeichnen. So erfahren auch die eigenartigsten Konstellationen ihre narrative Legitimität, selbst das absurde Stammtischszenario mit Großstadtpunk, blasiertem Anarchistem, genügsamem Proletarier, faschistoidem Wirt und mittendrin - zwischen den Stühlen - natürlich Less.

Man sollte aus guten Gründen dem inflationären Gebrauch des Prädikats "bemerkenswertes Debüt" nicht noch Vorschub leisten. In diesem Fall muss dieser Begriff jedoch bemüht werden. André Kubiczeks Debütroman ist einfach ein hinreißendes Buch, das weit mehr darstellt als einen weiteren Beitrag zur ostdeutschen Erinnerungsliteratur, die derzeit eine Hochzeit erfährt. Der junge Autor besitzt die große Gabe, selbst im Nebensatz, noch im kleinsten Detail das Lebensgefühl jener Generation auf den Punkt zu bringen, für die das in dieser Hinsicht doch so erfindungsreiche Feuilleton bislang noch kein geistloses Label gefunden hat.

Titelbild

André Kubiczek: Junge Talente. Roman.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002.
222 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 387134446X

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