Goethes Tagebücher sind erstaunlich schlicht und nüchtern

Historisch-kritische Ausgabe in zehn Bänden

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Goethe hielt viel vom Tagebuchschreiben und regte auch andere wie seinen Sohn August und seine Diener dazu an. Seine eigenen Tagebücher bestehen zunächst aus Selbstgesprächen, Bekenntnissen, Gemütsergüssen und Rechenschaftsberichten über eigene Entwicklungsprobleme. Später werden in erster Linie Erlebnisse, Ereignisse, Begegnungen, Besuche, Fahrten und Reisen, Lektüre, amtliche Tätigkeiten, literarische Arbeiten und Korrespondenzen festgehalten - und zwar erstaunlich schlicht und nüchtern.

Der jetzt herausgegebene zweite Band von Goethes Tagebüchern dokumentiert im Text- und Kommentarteil eine Zeit des Umbruchs im Leben und Schaffen des Dichterfürsten während der Jahre von 1790 bis 1800.

Am 31. März 1790 war Goethe mit seinem Diener und Schreiber Johann Georg Paul Goetze, von Verona und Vicenza herkommend, in Venedig eingetroffen und dann gemeinsam mit der Herzogin Anna Amalia und ihrem Gefolge am 22. Mai nach Padua weitergereist. Im August 1792 begleitete er Herzog Carl August auf dem österreichisch-preußischen Feldzug nach Frankreich, den die Preußen im Juni begonnen und Mitte August 1792 mit ihrem Grenzübertritt in ihr damaliges Feindesland hinein geführt hatten.

An seinem 43. Geburtstag am 28.8.1792 schreibt Goethe nur: "Sah ich mich um und ritt Nachmittags nach Longwy."

Anfangs wird nur bruchstückhaft berichtet. Während der ersten Hälfte des Jahrzehnts bleiben die Tagebücher höchst fragmentarisch. Das Jahr 1794 beispielsweise umfasst nur die Wochen vom 2. Januar bis zum 1. Februar und macht nicht mehr als eine Seite aus.

Ab 1796 wird das Erlebte von Tag zu Tag kontinuierlicher festgehalten. Eine innere Verpflichtung zur Tagesbilanz hat Goethe von nun an offenbar sein Leben lang nicht mehr losgelassen. Ihr ist er mit äußerster Disziplin bis wenige Tage vor seinem Tod gefolgt.

Doch auch weiter bevorzugt er für seine Tagebuchaufzeichnungen lakonische Kürze. Wenn es am 16. März 1796 heißt: "Abends mit V. im Garten" bedeutet dies, wie wir durch den Kommentarband belehrt werden, dass er mit Christiane Vulpius entweder im Garten am Wohnhaus (Frauenplan) oder im Gartenhaus beim Ilmpark war.

Hier noch einige Beispiele aus Goethes Tagebuchnotizen. Am 16. August 1796 schreibt er unter der Überschrift "Isaac": "Schluß des Romans revidirt./Bey Voigt/Abends Ball". Im Kommentar lesen wir, dass es sich dabei um "Wilhelm Meisters Lehrjahre" handelt. Am 12.9.1796 vermerkt er:"Früh Idylle/Mittag Schiller/Abends v. Münchhausen."

Die Aufzeichnungen während der Reise von Frankfurt bis Stäfa vom 25. August bis 25. September 1797 beeindrucken dagegen durch ihre detaillierte Ausführlichkeit. Am 29.8.1797 notiert er: "In Heidelberg Abends 9 1/2 eingekehrt in den 3 Königen, der goldne Hecht, der vorgezogen wird, war besetzt." Goethe fährt mit wachen aufmerksamen Sinnen durch das Land und schildert anschaulich die einzelnen Stationen: Heilbronn, Ludwigsburg, Stuttgart, Tübingen bis hin zum Rheinfall bei Schaffhausen. Daneben erhält nun auch die Dokumentation des 'normalen' Arbeitsalltags, der Begegnungen und Gespräche wie der geselligen Kultur im Tagebuch ein eigenes Gewicht.

So schreibt er am 9. April 1797: Früh v.Humbold weg/Blieb zu Hause. Hebraische Alterthümer." An anderer Stelle steht, er habe "einige artige Bemerkungen" gemacht über den "Zug der Kinder Israels durch die Wüsten". Auch von Plänen für spätere Arbeiten ist hin und wieder die Rede. So ermöglichen die akribisch geführten Tagebuchaufzeichnungen aus der zweiten Hälfte der neunziger Jahre einen gewissen Einblick in die entstehungsgeschichtlichen Phasen wichtiger Werke, auch in das produktive und sich wechselseitig befruchtende Nebeneinander ganz verschiedener Werkgruppen. Es ist die Zeit von "Wilhelm Meisters Lehrjahre", der Übersetzung und Kommentierung von Cellinis Autobiographie, des Versepos "Hermann und Dorothea", des Epos "Reineke Fuchs" sowie einer intensiven Beschäftigung mit der Farbenlehre und Beginn und Ende der zusammen mit Johann Heinrich Meyer produzierten Kunstzeitschrift "Propyläen". Auch die Arbeit am "Faust" wird wieder aufgenommen.

Am 1. April 1798 bringt Goethe zu Papier: "Fortsetzung der Arbeit an der Ilias. Professor Fichte und Dr. Schleusner waren bey mir. Abends bey Schiller, wohin Dr. Niethhammer kam und viel philosophirt wurde. Bey Kirchenrath Griesbach" und am 31. Oktober: "Diese Tage war der Herzog krank, und ich war die Meiste Zeit bey demselben", und am 9. Mai 1799: "Revision des dritten Bogens. Frau von Müller kam, ein Bote von Weimar mit den Exemplaren Hermann und Dorothea", vom nächsten Tag erfahren wir, dass Goethe "Abends bey Schiller" war.

Wie aber hat der Dichter das neue Jahrhundert 1800 begrüßt? Mit Jubel und Trompetenklang? Mitnichten. Zumindest ist nur folgender Vermerk vom ersten Tag des Jahres 1800 überliefert: "Mittw. NEU JAHR/Verschiedene Geschäfte Briefe pp/Mittag bei Gore." Keine Spur von Jubel, von erhobener oder nachdenklicher Stimmung. Goethe bleibt nüchtern und geschäftig. Ähnlich hat er auch das alte Jahr 1799 verabschiedet.

In das Jahr 1800 gehört das Reisetagebuch zur Leipziger Ostermesse. Die Auseinandersetzung mit der Bibel geht ebenfalls weiter, wie die Bemerkung am 12.9.1800 zeigt: "Abends Prof. Paulus über seine Bearbeitung des neuen Testaments."

Die biografischen Verflechtungen von Ereignissen, Begegnungen, Lektüreeinflüssen und Arbeitsplänen, die in den stichwortartigen Tagebuchaufzeichnungen oft mehr angedeutet als dargelegt sind, werden in dem ausführlichen Erläuterungsband aufgeschlüsselt. Hier werden Bezüge hergestellt und Verbindungen ermittelt. Dabei gelingt es den Kommentatoren, auch wenn sie gelegentlich auf Vermutungen angewiesen sind, die vielschichtige und facettenreiche biografische Aufklärung in die Präsentation des historischen Kontexts zu integrieren sowie in die Vergegenwärtigung der tagespolitischen, sozialen und epochemachenden Ereignisse und Entwicklungen des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts.

Bei seinen Reisen nach Italien (1790) und in die Schweiz (1797) wurde Goethe jeweils von einem, auch Dienerfunktion erfüllenden Schreiber begleitet. Beide Begleiter, Johann Georg Paul Goetze und Johann Jacob Ludwig Geist, führten gleichfalls Reisetagebücher, Goetze nur vorübergehend, Geist durchgehend. Diese Aufzeichnungen liefern zu Goethes eigenen Reisetagebüchern manche Ergänzungen und ermöglichen Vergleiche über individuelle Wahrnehmungen und Vorlieben. Da auch ihre Texte hilfreich sind für die Kommentierung der Goetheschen Aufzeichnungen, wurden sie in den Anhang des Kommentar-Bandes ungekürzt mitaufgenommen.

Goethes Tagebücher, ursprünglich nur für den Privatgebrauch und zur Selbstvergewisserung gedacht, sind für Außenstehende, trotz des begleitenden Kommentars, nicht allzu ersprießlich, zumindest recht mühsam zu verfolgen und bei weitem nicht so aufschlussreich und vergnüglich zu lesen wie "Dichtung und Wahrheit".

Titelbild

Johann Wolfgang von Goethe: Tagebücher. Band II, 1: Text. 1790-1800.
Herausgegeben von Edith Zehm.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
400 Seiten, 85,90 EUR.
ISBN-10: 347601391X

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Titelbild

Johann Wolfgang von Goethe: Tagebücher. Band II, 2: Kommentar. 1790-1800.
Herausgegeben von Wolfgang Albrecht und Edith Zehm.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000.
572 Seiten, 85,90 EUR.
ISBN-10: 3476013928

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