Der Rest ist Schweigen

Fritz J. Raddatz erzählt eine Geschichte vom verführten Kind

Von Michelle GrotheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michelle Grothe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der "Dampfer" ist ein einziges Paradies aus Schokolade, Pfirsichen, Pudding und allen nur erdenklichen Freiheiten, die sich ein Kind der 30er Jahre erträumen kann. Der Kapitän des Dampfers ist "Onkel Sami" - es ist seine Villa am Wannsee, die von dem kleinen Achim ihren Namen erhalten hat und in der dieser mit Mutter und Bruder Hansi so oft zu Besuch kommt. Wenn Onkel Samis Frau da ist, kommt Mutter nicht mit. Dann dürfen die Brüder alleine mit der S-Bahn fahren.

Warum Mutter nicht mitkommt bleibt für Achim ein Geheimnis. Ebenso wie die Frage, was katholisch ist oder jüdisch und warum der Vater ihm eine Ohrfeige gibt, als er bei Tisch ungestüm behauptet, ganz "meschugge" nach Autos zu sein. Warum ist er immer Außenseiter? Wie eine Eule sieht er aus, sagt Hans, und "guck nicht so jüdisch-neugierig wie ein Spitzbube" sagt der Vater. In der Schule ist es noch schlimmer. Warum das so ist, erklärt ihm keiner. Der Vater schweigt, die Mutter ergeht sich in Andeutungen.

Als Onkel Sami über Nacht das Land verlässt, gibt es dafür auch keine Erklärung.

Erst als Achim ihn später mit der Mutter in Paris besucht, wo er ihm einen glühenden Schulaufsatz über seine Nazi-Verehrung vorträgt, schmettert es ihm die Mutter ins Gesicht: Onkel Sami ist Jude und musste aus Deutschland fliehen.

Fritz J. Raddatz erzählt die Geschichte vom verführten Kind. Es ist die keineswegs neue Geschichte des ewigen Außenseiters, der Halt in der braunen Horde findet: "Diese geordnete Masse, die Fahnen, der Gleichschritt, die Musik, die Flammen. Nicht einer von uns war nur einer alleine. Tausende waren ein Körper." Doch nicht nur die Andersartigkeit, die seltsamerweise den Nazi-Brüdern nicht ins Auge fällt, und das damit verbundenen Schicksal des Außenseiters sind hier (plumpe) Gründe für die Entwicklung.

Auf besondere Art und Weise verleiht Raddatz der Sprachlosigkeit innerhalb der Familie Ausdruck. Die Atmosphäre in der engen dunklen Wohnung am Corso ist ebenso bedrückend und beklemmend dargestellt wie der Alltag der Nazizeit verstörend. Die Sprachlosigkeit der Eltern drängt den Jungen in die falsche Richtung, weil er nicht versteht. Als Kind kann er nicht verstehen, weil es ihm keiner erklärt. Der Jugendliche will nun nicht mehr verstehen, er hat schon begonnen, zu verdrängen. Und diese - später wohl gewollte Unwissenheit macht ihn nicht nur zum Rassen-, sondern auch zum Vatermörder: Nach seinem Aufstieg in die SS bringt Achim in Marseille mehrere in einem Bordell versteckte Juden um. Darunter auch Onkel Sami, den er nicht erkennen will. Onkel Sami ist sein Vater, wie die Mutter ihm am Schluss im Bombeninferno von Berlin kurz vor ihrem Tode erzählt.

Auch dies ist keine neue Geschichte, doch zeigt sie, dass die Sprachlosigkeit, das Nicht-Reden mit dem Kind, dieses ausgrenzt, vereinsamen lässt und zur leichten Beute für die Rattenfänger macht. Raddatz rückt die bekannten Geschichten in ein neues Licht, und es lohnt sich mit Sicherheit, sie in diesem noch einmal zu betrachten. Sprachlich ist "Ich habe dich anders gedacht" ein kleines Meisterwerk. Raddatz führt den Leser immer genau in die Atmosphäre der jeweiligen Situation ein. So ist man zu Beginn in die Lage des kleinen Jungen versetzt, der die Welt um sich herum zu begreifen versucht, ist mit dem Jugendlichen in der in ihrer verstörenden Wirkung dennoch alltäglichen Nazi-Umgebung und ist am Ende mit ihm im Bombenhagel. Dies alles erscheint so überzeugend durch das Spiel mit der Sprache: Der Erzähler benutzt die Sprache des Kindes und die Sprache eines ganz normalen jungen Mannes in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts. Nie verliert er die Distanz zum Vergangenen. Tatsächliche geschichtliche Ereignisse werden in der Erzählung beinahe ganz ausgelassen. Achim ist an der Politik nicht weiter interessiert, nicht einmal Hitler persönlich vermag ihn zu begeistern. Alles, was er will, ist der Rausch und das Aufgehen in der Masse. Daher kein Verstehen, kein Einsehen, höchstens Verdrängen.

Die Geschichte von Achim liest sich wie eine Lebensbeichte - unkommentiert, selbstverständlich aber reflektiert. Ob sich der Leser auf die mitschwingende Rechtfertigung einlassen kann und will ist eine andere Frage.

Titelbild

Fritz J. Raddatz: Ich habe dich anders gedacht. Erzählung.
Arche Verlag, Hamburg 2001.
112 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 371602287X
ISBN-13: 9783716022870

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