Von der Arbeit des Gedächtnisses

Claude Simons letztes Buch "Die Trambahn"

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Claude Simons letztes Buch, in diesem Frühjahr in deutscher Übersetzung erschienen, hat mehr Aufmerksamkeit hervorgerufen als sonst üblich bei diesem als schwierig geltenden Autor, der trotz Nobelpreises auch vielen literarisch Interessierten unbekannt ist. Die aktuelle Popularität rührt aber eher daher, dass dieser Kurzroman so schön überschaubar ist, und dann wohl auch daher, dass einigen Kritikern die Parallele zu Christa Wolfs letztem Buch aufgefallen ist, das ebenfalls in einer Krankenhaus-Situation eine Art Bilanz zu ziehen versucht.

Der Aufenthalt des Protagonisten in der Notaufnahme enthüllt sich jedoch erst nach und nach. Zuvor setzt die Schilderung ein mit der genauen Beschreibung einer Straßenbahnlinie, deren häufiger Gast der junge Simon auf seinem Schulweg in Perpignan in der Zeit kurz nach dem ersten Weltkrieg war. Es entspinnt sich eine, in immer neuen Bruchstücken und in langen, mäandernden Sätzen sich entfaltende Beschreibung des sozialen Kosmos, den die Tramlinie quasi durchschnitt und den sie selbst wiederum enthielt. Dem neugierigen Blick des Kindes, verstärkt in der geschärften Erinnerung des alten Mannes, dem noch die kleinsten Details dieser versunkenen Epoche wieder einfallen, enthüllt sich hier ein ganzes Geflecht sozialer Beziehungen nicht in Dialogen, sondern in Randbemerkungen, Gesten, Verhaltensweisen der Fahrgäste, dann auch seiner, den wohlhabenderen Klassen zuzuzählenden Verwandten, ausgeweitet auf den Erlebnisraum Schule und darüberhinaus - immer gebrochen und geschnitten durch die Schilderung der Lage des sich Erinnernden im Krankenhaus. In diesem ständigen Wechsel entfalten sich, im Medium von aktueller Wahrnehmung, aufgetaucht aus Fieberträumen in der Intensivstation, und rückblendender Gedächtnisarbeit, gewissermaßen zwei soziale und historische Kosmen, die sich im Bewusstsein des Autors überlagern und die er hier, literarisch durchgearbeitet und verdichtet, sequentiell (re-)produziert.

Die zwei Erzählebenen werden aber nicht einfach gegeneinander verkantet, sondern sind vielfältiger strukturiert. Die Erinnerungen an die Fahrt mit der Tram etwa zeigen bei genauerem Hinsehen, dass diese Linie zwei Punkte plebejischen Vergnügens verbindet (das Kino in der Innenstadt mit einem Rummelplatz am Strand), dabei aber durch eine lange, vorörtliche Villengegend führt, in der sich kleinbürgerliche Pensionen mit den Villen der örtlichen Weinbergbesitzer und sonstiger Honoratioren abwechseln. Nach kaum verständlichen Wortwechseln des detailliert beschriebenen "Wattmans" (so hieß das damals in einem frühen Franglais) mit ebenfalls wortkargen, rauchenden Mitfahrern "in dem stickigen, nach Ammoniak riechenden Vorraum" des Führerstandes (Simons Madeleine ist gleichsam die Erinnerung an ein stechend riechendes Schmiermittel) erfahren wir nach und nach von den wechselweisen Einladungen der "offiziellen" Gesellschaft, von ihrer Prüderie und katholischen Zugeknöpftheit, vom Umgang mit den Dienstboten, mit als Außenseitern Geltenden, von einem in diesen Kreisen nie artikulierten, aber schwelenden Antisemitismus. In der geradezu ornamentalen Riesenarchitektonik seiner Sätze erzeugt Simon Stück um Stück ein Bild dieser "guten" Gesellschaft, dessen fragmentarischer Charakter mit einer sinnlich gesättigten, farbenprächtigen und präzisen Art so zu schildern einhergeht, dass durchaus so etwas wie eine Totalität entsteht: eine ganz spezifische Sphäre des Imaginären im Medium der Erinnerung. Totalität nicht verstanden als behagliche epische Fülle, sondern als aufgeladener, verdichteter Kristallsplitter einer vergangenen Epoche.

Diese Ebene wird verklammert mit der Situation in der Gegenwart vor allem über Bilder des Todes und des Dahinsiechens, ausgelöst natürlich durch die Erfahrung der eigenen Hinfälligkeit. Die verkrüppelten Veteranen der großen Gemetzel des ersten Weltkrieges in ihren Rollstühlen, von der Mutter, die ihren Mann selber im Krieg verlor, mit einer Mischung aus Mitleid und Abscheu "die Rumpfmänner" genannt; kurz darauf ihr eigenes Siechtum im Liegestuhl; der Anblick Todkranker (oder schon Gestorbener) in der Intensivstation; das Antippen von Assoziationen in Bildern Bruegels und Boschs - all das schießt dem aus der Intensivstation Entkommenen zu einer wahren Bilderflucht entgegen - "schaukelnd, entfliehend und verschwindend in einer Art Trichter, einer unergründlichen Ferne". Der Tod als schwarzes Loch, als Aufsaugen sämtlicher Bilder, das alle Vorstellungen grundiert.

Zu Beginn setzt der Erzähler bei der Schilderung der Straßenbahn fast konventionell ein, im Tempus/Modus von Imperfekt und Konjunktiv: "Mir schien, als sähe ich es, wäre dort" (im Fahrerhaus) - das klingt nach Proustscher Beschwörung der Vergangenheit. Gegen Ende scheinen wir ganz nahe dran zu sein an der sich in der Gegenwart vollziehenden Einnerungsarbeit des Erzählers. Ein im Krankenhaus von irgendwem aufgeschnappter Satz "Wie schön sie war inmitten all der Blumen" wird aufgefüllt mit der Schilderung des Wahrgenommenen, der Assoziationen, die der Satz ausgelöst hat und die in der bildlichen Kopplung "Blumen und Tod" zusammenfallen. Nach einem Absatz fährt der Erzähler fort: "Wenn ich darüber nachdenke, meine ich, dass nicht allein die kurze Wahrnehmung [...] und die im Fahrstuhl aufgeschnappten Wörter diese klassische Assoziation in mir hervorgerufen haben, sondern vielleicht auch (oder hinzukommend) am selben Nachmittag" - und es folgt ein weiterer Eindruck aus dem Krankenhaus. Wir scheinen quasi in der Gegenwart aufzutauchen, dabei dem Autor in seiner Reflexion zuschauen zu können. Deshalb kann Simon mitunter auch andere Sinneseindrücke einarbeiten, die er für seine Erinnerungs- und Bildarbeit braucht, die sich nicht streng an die beiden Erzählzeiten halten; ganz eng umrissene Situationen kurz vor und im zweiten Weltkrieg oder auch Bilder einer Reise nach Indien irgendwann in den 70er oder 80er Jahren.

Claude Simon, dessen Bücher stofflich alle zusammenhängen und Fragmente aus seinem Leben verarbeiten, ist gegen Ende seines Lebens in seiner Erinnerung so weit zurückgegangen wie kaum einmal. Damit enthält dieses knappe, verdichtete Werke das ganze Opus ein weiteres Mal, wie in einem kleinen Brennscherben. Und es drängt sich, mit einer Widmung an seine Frau ("Für Rea, noch einmal"), im Bewusstsein seiner Endlichkeit, so etwas wie eine elegische Stimmung auf. Es zeigt noch einmal, wie innovativ der Nouveau Roman war und noch immer wirken kann. Liest man dies Prosastück ein zweites Mal, nicht so sehr auf den Nachvollzug der einzelnen Satz- und Bildelemente konzentriert, sondern etwas rascher, schweifender, ergibt sich ein Effekt fast wie ein Bilderrausch, der dazu führt, dass die eigene Wahrnehmung geschärft wird und man fast mit Simonschen Augen auf seine eigene, umgebene Wirklichkeit zu blicken beginnt. Diese Erfahrung können nur wenige Autoren vermitteln. Bei Simon lässt sich zeigen, dass Lesearbeit mit Erkenntnisglück Hand in Hand gehen kann.

Titelbild

Claude Simon: Die Trambahn. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.
DuMont Buchverlag, Köln 2002.
113 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3832158669

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