Aus dem Leben eines Glaubenichts

Günter Brus folgt Arthur Gordon Pym

Von Klaus KastbergerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Kastberger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es soll Leute geben, die beurteilen die Qualität literarischer Texte nach der Originalität von Anfangssätzen. Günter Brus liegt in dieser Wertung seit kurzem ganz vorne. Sein Buch "Die gute alte Zeit" beginnt mit einem Satz, der in seiner Lakonie selbst noch Gertrude Stein übertrifft: "Ich sehe weiß und beginne meine Reise am Ende von Gordon Pyms Reise".

"Der Bericht des Arthur Gordon Pym aus Nantucket" stammt von Edgar Allen Poe und ist einer der rätselhaftesten Texte der Weltliteratur. Ursprünglich war die Novelle als eine Persiflage auf jene fantastischen Reiseberichte vornehmlich aus Polar- und Südseegegenden geplant, denen das literarische Publikum Mitte des 19. Jahrhunderts nur allzu gerne Glauben schenkte. Zusehends jedoch gewannen die Motive Eigenständigkeit und schlugen den Autor in ihren Bann. Manche Interpreten mutmaßen gar, dass es sich bei Pyms Reise um Poes "allegorische Autobiographie" handelt - ein Begriff, den man sich hinsichtlich des Brus-Buches am besten gleich einmal vormerkt, um dieses nur ja nicht als ein authentisches Selbstporträt-des-Künstlers-als-junger-Mann misszuverstehen.

Gordon Pym aus Nantucket also, in dessen Fußstapfen Brus tritt, versteckt sich als Sechszehnjähriger auf einem Walfangschiff und durchlebt als blinder Passagier sämtliche Schrecken des Lebendig-Begraben-Seins. An Bord bricht eine Meuterei und ein wüstes Gemetzel los, die wenigen Überlebenden sind in einem Sturm gezwungen, die Masten zu kappen. Das Schiff treibt hilflos im Meer, die Nahrungsmittel gehen zu Ende. Schließlich fallen die Übriggebliebenen übereinander her und fressen einen Mann aus ihrer Mitte auf.

Nach wochenlangem Aufenthalt auf dem Wrack werden die beiden letzten Männer, Pym und ein gewisser Peters, von der "Jane Guy" geborgen. Dieses Schiff befindet sich auf einer Expedition in die Antarktis, und es ist ihm selbst kein gutes Schicksal beschieden. Hinter einer Eisbarriere trifft man auf eine Insel mit pechschwarzen Bewohnern, denen die gesamte Mannschaft zum Opfer fällt. Peters und Pym entkommen in einem Kanu. In milchigem, immer heißer werdenden Wasser nähern sie sich einer Nebelwand, hinter der eine große weiße Gestalt auf sie zuschwebt. An dieser Stelle bricht (mit dem suggerierten Tod des Erzählers) Poes Bericht ab. 164 Jahre später führt Günter Brus Gordon Pyms Reise fort: "Rundum nimmt die Grelle ab, und es zeigen sich diffuse Schatten, die bald die Form eines beißwütigen Hundes annehmen, vor welcher ich das Weite suche. Ich flüchte durch weitere Schatten, tauche durch Dunkelheiten und bemerke dann, daß ich auf der Couch eines Psychiaters sitze."

Auf der Couch des Psychiaters hält es der Schreibende nicht lange aus. Sein Bericht über die "gute alte Zeit" ist - dem Gott der Seelenärzte sei es gedankt - eben nicht das Protokoll einer Analyse. Es handelt sich vielmehr um eine über weite Strecken höchst temporeiche Erzählung, die ständig zwischen Wahrheit und Dichtung, Fiktion und Wirklichkeit schwankt. Sicher ist hinter allen den Übertreibungen, Pointierungen und puren Phantastereien, die eher an einen Abenteuerroman aus dem 19. Jahrhundert als an heutige autobiographische Gepflogenheiten erinnern, die reale Person des Günter Brus zu erkennen: Aufgewachsen beim geliebten Großvater im Ennstal und vom sogenannten "Chefvater" ins südsteierische Mureck "entführt"; später Kunsterziehungsanstalt und -akademie. Je vordringlicher das Leben als Künstler wird, desto mehr fransen die Aufzeichnungen aus. Bis es am Ende zu einem fast Beckettschen Stammeln kommt: "Hilfe, ich kann nicht mehr berichten, schon gar nicht mehr dichten".

Dass Günter Brus, der maßgebliche Vertreter des Wiener Aktionismus und weltweit anerkannte Bild-Dichter, auch in einem streng literarischen Sinn zu dichten versteht, hat sich bisher nicht sehr weit herumgesprochen. Dabei hat Brus schon drei Bücher vorlegt. 1984 erschien der phantastische Roman "Die Geheimnisträger", 1987 eine Sammlung mit Kurzprosatexten (von Brus selbst als "Bonsai-Novellen" bezeichnet) unter dem Titel "Amor und Amok". 1993 gab Arnulf Meifert, mit dem der Künstler mittlerweile wegen der Herausgabe seiner Originalschriften prozessiert, den Band "Morgen des Gehirns/Mittag des Mundes/Abend der Sprache" heraus, der auf mehr als 1.000 Seiten literarische Texte von 1984-1989 versammelt. In einem der letzten Einträge macht Brus dort klar, was er von starken Subjekten hält: "Gleich einem Gleichnis ward mir mein/hartes Ich zum Weichnis, gefiederhaft."

Ein hartes, autobiographisches Ich lässt Brus auch in seinem neuen Buch nicht zu. In einem gezeichneten Frontispiz zur "guten alten Zeit" findet sich ein Satz, der an das differenzierte Beschreibungskonzept aus Peter Handkes "Wunschlosem Unglück" erinnert, in dem bekanntlich jeder mögliche Satz mit der tatsächlichen Lebensgeschichte der eigenen Mutter verglichen werden soll. Bei Brus heißt es, dass "zwischen Klappentext und Schmutztitel" die Wörter auf eine Reise "zur Erinnerung an ihre Bedeutung" gehen. Der tatsächlich eingetragene Schmutztitel bestätigt die reflektorische Distanz: "Aus dem Leben eines Glaubenichts. Oder Doch?"

Was man dem Buch von Brus ohne weiteres glauben kann, sind die Wunden, die die Kindheit und der Vater an ihm schlug. Bei diesem Vater handelt es sich um einen Nazi-Mitläufer, der ab und zu die ganz großen Töne spuckt. In einer Szene des Buches ist der Mann in der Küche zu sehen, wie er mit blutigen Händen ein "1a prima Masthuhn" ausnimmt und die ärgsten Sprüche klopft, während aus dem Radio das Lied "Es wird einmal ein Wunder geschehen" zu hören ist. Um den Küchentisch herum sitzen die Saufkumpanen, erzählen sich Judenwitze und machen sich derb über die Mutter wie überhaupt über Frauen her. Am Ende der eindringlichen Schilderung hat der Schreibende eine passende Verpackung für den Horror gefunden: "Vermutlich kam mein Vater nicht in den Himmel, nicht in die Hölle, nicht ins Fegefeuer, sondern wurde wie ein Picasso-Fisch für immer in eine Red-Bull-Dose verbannt."

So oder so ähnlich läuft es in dem Buch überall. Die Wirklichkeit erscheint nicht für sich, sondern stellt sich als eine Funktion des Ästhetischen dar. Dies wirkt aber gar nicht so aufgesetzt, wie man vermuten könnte, weil es der Wahrnehmung des Kindes entspricht: "Überhaupt verlegte ich alles, was ich zu sehen bekam, in weit entfernte Länder und verschob die Dimensionen gewaltig." Der Vater erscheint dem Sohn nicht wie ein Mensch, sondern wie eine Skulptur. Und auch der Zweite Weltkrieg ist, obwohl er an manch einer Stelle geradezu unglaubhaft nahe liegt, in eine fernere Betrachtung gerückt: "Als der große Krieg stattfand, wich er einem Eisenbahnknotenpunkt natürlich nicht aus. Mein Großvater überließ mir dann und wann seinen 'Gucker', wie er sein Fernrohr bezeichnete, um das Bombardement auf den Balkon zu holen. Ich sah rennende und brennende Menschen, Flammen- und Rauchsäulen. Am nächsten Tag überquerten wir die Eisenbahnbrücke, um am Ort der Katastrophe Fundstücke einzusammeln, die der Großvater dann in seiner Werkzeugvilla wie Trophäen an der Wand befestigte."

Die Vergangenheit wird bei Brus durchs Fernrohr der Sprache gesehen oder hängt als eine Trophäe an der Wand. Manchmal sind es nur einzelne Wörter, die das Gewesene evozieren: Die "Nylons" etwa, die sich zwei Frauen nach dem Krieg teilen, um sie jeweils für ihren Mann überzuziehen. Oder das schöne Wort "gackerlbraun", das einen schnell in die eigenen Kindheit entführt. Manchmal läßt Brus die Geschehnisse ganz nahe an den eigenen Körper heran. Einmal liegt das Kind nackt am Dachboden und klopft sich mit einem Hammer ab, um eine dumpfe Musik zu komponieren; eine "Akupressur-Sonate" nennt der Autor das Ergebnis. Ein Klassiker der Pubertät ereignet sich im Schwimmbad. Der Junge steckt sich einen Wollknäuel in die himmelblaue Badehose, um gegenüber den Konkurrenten Potenz zu beweisen. Das Knäuel säuft sich jedoch so sehr an, daß ihm das übelriechende Chlorwasser minutenlang über die Schenkel tropft, was immerhin noch besser ist als der weithin bekannte Versuch von Peter Turrini. Der hatte es einst mit gleich zwei Tannenzapfen versucht und ein ähnlich desaströses Ergebnis erzielt.

Die Kunst löst den Schrecken der Wirklichkeit auf, heißt es bei Friederike Mayröcker. Ähnliches gilt für das Buch von Günter Brus, wobei es hier nicht zuletzt der Schrecken vor den Frauen ist, der dem Schreibenden in den Knochen sitzt: "Letzten Endes stieß ich auf eine Frau namens Gloria. Sie war die Gattin eines Barhockerfabrikanten, und ihre Schamhaare waren wellensittichgrün. Ihre Scheide hatte ein Chirurg irrtümlich zugenäht." Gegen solche Erfahrungen hilft vielleicht wirklich nur mehr der Kalauer, den Brus aber auch nicht schlecht beherrscht: "Sag mir, was du liest, und ich sage dir, was dich verdrießt". Dieser Satz trifft zumindest auf eines nicht zu. Auf "Die gute alte Zeit" selbst, ein Buch, das allen zu empfehlen ist, die an surrealen Frechdachseiern eine Freude haben. Schließlich ist es genau so, wie der Autor sagt: eine Mischung aus Groucho Marx und Luis Buñuel.

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Günter Brus: Die gute alte Zeit.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2002.
270 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3902144289

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