Unaufgeregt und subtil

Zu einer Neuausgabe von Wielands "Menander und Glycerion"

Von Florian GelzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Gelzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor ziemlich genau zwei Jahrhunderten erschienen die zwei Briefromane "Menander und Glycerion" (1803) und "Krates und Hipparchia" (1804) von Christoph Martin Wieland bei Cotta in Tübingen - sehr zum Leidwesen des Verlegers Göschen, der sich vertraglich das Recht auf alle neuen Wielandschen Werke gesichert hatte. Entstanden nach dem imposanten "Aristipp"-Roman (1798-1800), gehören die beiden "Werkchen" (Wieland) zu den letzten dichterischen Arbeiten des damals siebzigjährigen Autors; in den letzten Lebensjahren widmete er sich ganz seiner Übersetzung der Briefe Ciceros. Nach der gebundenen Ausgabe bei Haffmanns (1994) ist "Menander und Glycerion" nun als - wie man zu Wielands Zeit gesagt hätte - "wohlfeiles" Taschenbuch erschienen.

Außer in den Gesamtausgaben waren die beiden Romane lange Zeit nur in zwei längst vergriffenen Editionen greifbar: als "Gelbe Taschenbücher" bei Goldmann (1969) bzw. als liebevoll gestaltete Faksimiles eines DDR-Verlags (Edition Leipzig, 1983). Einmal mehr muss also das Engagement Jan-Philipp Reemtsmas, des Herausgebers der vorliegenden Neuausgabe, in Sachen Wieland gelobt werden. Seit über zwei Jahrzehnten hat er durch gediegene Einzelausgaben von Wielands Werken - darunter "Peregrinus Proteus" (1985), "Der neue Amadis" (1995) und "Don Sylvio" (1997) - sowie mit seiner Forschungsarbeit dafür gesorgt, dass der Name dieses Autors nicht länger allein mit dem "Agathon" und der "Geschichte der Abderiten" assoziiert wird. Reemtsmas bewährtes Editionsprinzip, Wielands Texte unkommentiert, in absolut unveränderter Gestalt als Lese-Texte zu präsentieren, wurde ein weiteres Mal tadellos und augenfreundlich (Großdruck!) umgesetzt.

Um was geht es in dem Roman? In Wielands Zeitschrift "Attisches Museum" hatte der Philologe Friedrich Jacobs ab 1798 eine Serie mit dem etwas dubiosen Titel "Beiträge zur Geschichte des weiblichen Geschlechts, vorzüglich der Hetären zu Athen" veröffentlicht. Unter anderem war dort über eine Liebschaft zwischen der Hetäre Glycera und Menander, dem berühmten Komödiendichter, berichtet worden. Als Quellen hatten Jacobs das "Gelehrtengastmahl" des Athenaios sowie ein fiktiver Briefwechsel aus den "Hetärenbriefen" des Sophisten Alkiphron gedient. Diese bereits in der Antike, im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus überlieferte Liebesgeschichte ist es, die Wieland in 42 Briefen nacherzählt, wobei er mit den (ohnehin fragmentarischen) Quellen wie gewohnt sehr frei umgeht. Glycera erscheint bei ihm nicht als Hetäre, sondern wird mit einer in der "Naturgeschichte" des Plinius erwähnten Blumenbinderin gleichen Namens identifiziert. (Diesen Stoff hatte bereits Goethe 1798 in dem dialogischen Gedicht "Der neue Pausias und sein Blumenmädchen" verwendet.)

Wielands Roman setzt ein, als Menander ein Porträt der Glycera betrachtet und sich in das unbekannte Blumenmädchen verliebt. Was er nicht ahnen kann: Glycera, die betörende Schönheit, ist ihrerseits seit ihrer Kindheit eine glühende Verehrerin seiner Komödien. Als ihre Familie nach Athen zieht, ganz in die Nähe des Dichters, gehen die kühnsten Wunschträume der beiden wie selbstverständlich in Erfüllung. Glycera lernt den hochgeschätzten Autor persönlich kennen; Menander begegnet dem Original seines Traumbilds. Der Dichter erscheint als regelmäßiger Gast bei der Familie des Blumenmädchens, und bald werden die beiden - der unattraktive, aber prominente Geistesmensch und das schöne Naturkind - ein Paar. Der große Menschenkenner entpuppt sich aber schon bald als unzuverlässiger Faun: Nach einer Affäre mit Bacchis, der Gefährtin eines Freundes, kehrt er zwar wieder zu seiner treuen Geliebten zurück, erliegt dann aber den Reizen einer Tänzerin. Während sich Menander und Glycera in der antiken Überlieferung in hymnischen Briefen ihrer Treue versichern, gipfelt Wielands Roman in ernüchterten Absageschreiben. Glycera findet schließlich ihr Glück in Hermotimos, einem "gemäßigten rechtlichen Erdensohn"; der reuige Menander bleibt allein zurück - die erwähnte Tänzerin hat ihn bereits wieder für einen wohlhabenden Freund verlassen.

Es ist die Geschichte einer wechselseitigen Desillusionierung: Glycera wird gewahr, dass sie sich in die Werke, nicht in die Person Menanders verliebt hat. Und dieser muss einräumen, dass die selbstbewusste und gescheite Frau an seiner Seite mit dem Bild des kindlich-naiven Blumenmädchens, das ihm vorschwebte, kaum etwas zu tun hat. Eine ähnliche Umdeutung eines antiken Stoffes nimmt Wieland in dem Briefroman "Krates und Hipparchia" (1804) vor, der als inhaltlich verknüpftes "Seitenstück" beinahe identischen Umfangs den Menander-Roman komplementiert. Ausgangspunkt ist dort eine Anekdote über den kynischen Philosophen Krates von Theben, der mit seiner Braut Hipparchia bei Tag und in aller Öffentlichkeit Hochzeit gehalten haben soll. Wielands Roman erzählt die Geschichte indessen ganz anders: Die Tochter aus gutem Hause heiratet gegen alle Widerstände den mittellosen Kyniker, und das angebliche Skandalpaar stellt ein in jeglicher Hinsicht vorbildliches bürgerliches Ehegespann dar.

Das schleichende Auseinanderdriften zweier Liebenden ("Menander") bzw. den Fortgang einer behutsamen Annäherung ("Krates") in der schwierigen Form des Briefromans mit mehreren Briefpartnern darzustellen - allein dies ist ein kompositorisches und stilistisches Meisterstück. Hinzu kommt die subtile, unaufdringliche Subversionskraft des Romanduos. Nicht nur werden zwei antike "Mythen" umgeschrieben; die Briefwechsel über imaginierte, reale und projizierte Männer- und Frauenbilder stellen auch einen intelligenten Grundkurs in Sachen "Gender" dar. Das antike Dekor und die historische Gelehrsamkeit der Romane sollten nicht davon ablenken, dass die Protagonistinnen ein erstaunlich emanzipiertes Selbstbewusstsein an den Tag legen, das auch die feministische Literaturwissenschaft, nähme sie die Romane zur Kenntnis, überraschen würde: Glycera schreibt, "die Ehe an sich selbst habe mit der Liebe nichts zu schaffen; sie sei nichts als ein bürgerlicher Vertrag", und Hipparchia lehnt es ab, "die gesetzmäßige Beischläferin eines Mannes zu sein". Beide Frauen kommen schließlich zu ihrem Glück, indem sie auf die Forderung nach einer vollkommenen Liebe verzichten. Was aber die bessere Lösung sei: das süße Spiel der Täuschung oder die illusionlose "Liebe ohne Leidenschaft" - zu dieser Diskussion laden die beiden Briefromane ein.

Das Nachwort Reemtsmas ist eine launige Einführung in Wielands Leben und Werk. Leider wird auf den Roman selbst und seine Entstehung nur im Schlussabschnitt flüchtig eingegangen - der "Krates"-Roman wird nicht einmal erwähnt. Das Nachwort Peter Goldammers in der Ausgabe der Edition Leipzig bleibt jedenfalls empfehlenswerter. Und dass bei modernen Wieland-Ausgaben regelmäßig etwas betuliche, inhaltlich unzusammenhängende Illustrationen (hier ist es Nicolas Poussins "Acis und Galatea") das Titelblatt zieren, ist offenbar unvermeidlich.

Titelbild

Christoph Martin Wieland: Menander und Glycerion. Liebesroman. Mit einem Nachwort von Jan-Philipp Reemtsma.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
208 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3458341218

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