Knapp daneben

Jonathan Coe schießt in seinem neuen Roman "Erste Riten" über das Ziel hinaus

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man nehme einen Jungen namens Ben Trotter, der gerade mitten in der Pubertät ist, auf eine feine englische Privatschule geht und nach eigener Aussage die wichtigsten Dinge im Leben verpasst, da er gerade rausgegangen ist, um Tee zu kochen. Man gebe Ben Trotter drei Freunde, die mit ihm die Schule besuchen und seine Mitstreiter in solch wichtigen Unternehmungen wie Bands gründen und die Schülerzeitung machen sind. Dann rühre man noch ein bisschen Familie bei: eine ältere Schwester, deren Freund den jungen Ben in die Welt der Rockmusik einführt, einen Vater, der im Management einer alsbald bestreikten Firma sitzt, und eine Mutter, die so unscheinbar bleibt, das man am Ende der Lektüre nicht weiß, wo sie überhaupt in der Geschichte auftaucht. Abschließend würze man das Ganze noch mit einer Überdosis englischer Zeitgeschichte - und fertig ist "Erste Riten", der neue Roman von Jonathan Coe: eine ungenießbare Kost.

Alles beginnt in Birmingham im Jahre 1973, als die Familie Trotter in braver Mittelklasse-Manier im Wohnzimmer vor dem elektrischen, künstlichen Kaminfeuer sitzt. Die Idylle wird jedoch bald von den großen politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen im England der 70er Jahre zerstört. Bens Schwester Lois ist im November 1974 mit ihrem Freund in der "Tavern in the Town" in Birmingham just an jenem Abend, an dem in dem Pub eine Bombe hochgeht. Lois' Freund stirbt in ihren Armen, Lois wird in die Psychatrie eingewiesen. Die Bombenexplosion, die direkte Auswirkung auf die Familie Trotter hat, ist nur das erste einer Reihe von politischen Vorkommnissen, die das Leben Bens beeinflussen. Coe erzählt meist aus Bens Perspektive, was vermutlich sein großer Fehler bei der Konzeption des Romans war - Ben ist bei den wichtigsten englischen politischen und kulturellen Ereignissen der 70er Jahre zugegen, womit der Roman an Glaubwürdigkeit verliert. Unerträglich sind jedoch die Kommentare, die Ben und seine Freunde zu diesen Ereignissen abgeben: sie bleiben bloße Konstruktion, da Coe den Jungen ein Wissen um die Ereignisse unterstellt, das niemand zu diesem Zeitpunkt schon haben konnte. In diesen Szenen scheinen Coes ausufernde Recherchen - Coe nennt am Ende des Romans 16 Bücher, die ihm beim Schreiben über die 70er Jahre geholfen haben - mehr als offensichtlich durch. Coe hat sich sichtlich bemüht, die 70er Jahre detailgenau wieder aufleben zu lassen, aber weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen. Der Autor quetscht in 456 Seiten die schlagzeilenmachenden Ereignisse von 1973 bis zur Regierungsübernahme Margaret Thatchers, von sechs Jahren also, und überlädt damit hoffnungslos die eigentliche Handlung, nämlich das Erwachsenwerden der vier Freunde. Vielleicht irrte Coe auch einfach bei der Wahl des Schauplatzes: die Schule als Mikrokosmos der Welt darzustellen ist weder neu noch besonders darstellenswert, besonders wenn es sich um eine Schule handelt, deren Schüler privilegiert sind und die sich lediglich mit der Frage quälen müssen, ob sie sich zum Studium in Oxford oder in Cambridge bewerben sollen. Bens vermeintlicher Durchblick bei den Ereignissen, die die Zeit erschüttern, steht in krassem Gegensatz zu den Themen, über die sich die Freunde ansonsten unterhalten - "Warum tötet die IRA soviele Leute?" und "Warum ist Berlin geteilt?"

Natürlich hat ein Junge in Bens Alter auch einen Schwarm, an den er nie herankommt. In Bens Fall heißt die unerreichbare Schöne Cicely und steigt plötzlich aus dem Pantheon herab, nachdem sie Ben jahrelang ignoriert hat. Doch Cicely ist nur an einer Freundschaft mit Ben interessiert, und es bedarf einer ansonsten unmotivierten Reise nach Wales, damit die beiden zueinander finden. Coe lässt Ben gerne mal ein bisschen durch die Weltgeschichte reisen, ohne dass einem wirklich klar wird, inwieweit die Reisen die Handlung voranbringen. So pilgert Ben mit seiner Familie nach Dänemark, um dort mit einem alten jüdischen Ehepaar und deren Leidensgeschichte während der Besetzung durch Nazi-Deutschland konfrontiert zu werden - eine Begegnung, die ansonsten für den Rest des Romanverlaufs unerheblich bleibt. Unschlüssig sind auch einige andere Passagen: Ben wird als neu ernannter "prefect" zu seinem Schuldirektor nach Hause zum Essen eingeladen. Bemüht, einen besonders guten Eindruck zu machen, tritt Ben von einem Fettnäpfchen ins nächste und nimmt die von der Frau des Schuldirektors gerade abgelegte künstliche Hand, um damit zu spielen - ohne zu realisieren, dass es die künstliche Hand der Frau des Direktors ist. Bleibt die Frage: Warum würde die Frau des Direktors bei einem offiziellen Anlass die Hand abstreifen und herumliegen lassen? Soviel Sorgfalt Coe den zeitgeschichtlichen Details hat angedeihen lassen, so wenig Sinn hat er manchmal für die Schlüssigkeit der kleineren Sujets.

"Erste Riten" ist weder schlecht geschrieben noch thematisch uninteressant, doch Coe hat eindeutig zuviel auf einmal gewollt, nämlich den definitiven Roman über Adoleszenz im England der 70er Jahre zu schreiben. Damit hat er den Roman seinem Ehrgeiz geopfert.

Titelbild

Jonathan Coe: Erste Riten. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Sky Nonnhoff.
Piper Verlag, München 2002.
458 Seiten, 23,90 EUR.
ISBN-10: 3492043704

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