Gar keine nette alte Dame!

Neues von Will Self, dem "enfant terrible" der englischen Literaturszene

Von Stefanie PhilippRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Philipp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es heißt, man ist, was man ißt, und jetzt, da ich sterbe, weiß ich, dass das eine feste Tatsache ist. Und eigentlich ist es nicht nur eine feste Tatsache, sondern auch eine gallertige. Es ist labberige, klebrige, geronnene Realität."

1998: Lily Bloom, 65 Jahre alt, Jüdin und Antisemitin aus Leidenschaft, liegt an Krebs sterbend im Royal Ear Hospital in London. Natty, ihre "Junkietochter", und Charlotte, die so dermaßen bürgerlich ist, dass sogar ihrer Mutter schlecht werden könnte, zetern, während Lily, vollgepumpt mit Morphium, zwischen kurzen Phasen des bewussten Wahrnehmens und einem seltsam vermischten Zustand aus "Flashback" und Realitätsverzerrung in den Tod dämmert. Ab und zu steckt Phar Lap Jones seine Nase in die Kabine der Sterbenden und wartet darauf, dass sein "Mädel" in die "godzone" eintritt. Er ist ihr Begleiter über den Styx.

Was Lily noch nicht weiß: Dort, in den Sphären der Todokratie, erwarten sie Anhängsel, die sie aus dem Leben mitnimmt. "Lithy", ihr Lithopädion, "wurde gezeugt und starb 1967, im Herbst ihrer Liebe". Seine Erinnerungen, und somit sein Bezug zum Leben, beschränken sich auf Poprhythmen und Liedzeilen, aus denen er das Rohmaterial seiner Konversation bezieht. Im Gegensatz zu "Rotzlöffel" ist Lithy allerdings ein angenehmer Zeitgenosse. "Rotzlöffel", alias Dave, "ist auf Dauer gefangen, in jener flegelhaften Trotzigkeit, die ihn auf die Straße hinaustrieb, vor den Fünfzigerjahre-Kotflügel, der seinen Schädel zerschmetterte und sein Hirn über den Asphalt schmierte." Damals war er neun und jetzt - ist er noch immer ziemlich sauer auf seine Mutter, die den Unfall quasi provoziert hat. Seine Hauptaufgabe im Tod Lilys scheint darin zu bestehen, Passanten auf der Straße sein nacktes Hinterteil zu zeigen und übelste Schimpftiraden in die Umwelt zu brüllen. Wobei dies eine der harmloseren, jugendfreien Varianten ist, Rotzlöffels Verhalten zu schildern.

Als nicht viel subtilere Gesellschaft erweisen sich die "Fetten". Jedes Gramm Fleisch, das Lily Bloom in ihrem Leben ab- oder zugenommen hat, vereinigt sich in unansehnlicher Form dreier Begleiterinnen, die ständig flüsternd den "Verfall" Lilys und ihre zunehmend stoisch desinteressierte Haltung kommentieren. "Alt und fett, alt und fett, alt und fett! Sie läßt sich gehen." Das Gute ist: Lily kann über ihren Krebstod nur müde lächeln, da der Verzehr von mal mehr, mal weniger als 70 Benson & Hedges pro Tag der einzige Genuss ist, an dem sie sich festhält. Nicht, dass sie noch über sensorische Sinne verfügen würde, aber es ist doch eine durchaus angenehmere nostalgische Angewohnheit im Stadtbezirk der Todokratie, als das ständige "Auf-Essen-rumkauen-und-ausspucken". Dazu hat sie jetzt immerhin wieder Zähne, ein weiterer positiver Aspekt des Tod-Seins.

Was passiert nach dem Tod? Eine Frage, die so alt ist wie die Menschheit. Will Self zeichnet in "Wie Tote leben" sein ganz eigenes Bild vom Danach. Es ist irgendwie düster und bedrückend- englisch halt - aber vor allem ist es unerwartet komisch. Wer hätte gedacht, dass der Verwaltungsapparat dieser Welt, "die Todokratie", "eine Art von Swining Scene bevorzugt", einen so "verläßlichen Appetit auf eigentlich alles hat, was ihnen die Gelegenheit gibt, stundenlang zu daddeln". Nichts bleibt einem Toten erspart, selbst arbeiten muss man.

Willkommen in der Welt von Will Self, dem enfant terrible der englischen Literaturszene. In seinem neuen Roman "Wie Tote leben", schreibt Will Self die Kurzgeschichte "Das Nordlondoner Totenbuch" fort, das 1991 in dem Erzählband "The Quantity Theory of Insanity" als eine seiner besten Kurzgeschichten seinen skurrilen Anfang nahm. Die surreale Welt, die der Autor entwirft, ist eine ironische, teils sarkastische Entdeckungsreise in die absurden Momentaufnahmen der real existierenden Welt. Ein eigenwilliger Monolog, der den Leser mitreißt - manchmal in die Tiefen einer schmerzhaften Erinnerung oder des Mitgefühls und manchmal inmitten einer perfiden Phantasie. Erst wenn dem Leser klar wird, dass die spröd-charmante Lily tatsächlich gerade stirbt, schnürt es ihm die Kehle zu.

"Sterben", "Tod" und "Toter" heißen die drei Teile des Buches und wohl auch die Phasen in Lilys Leben, die wir als Leser miterleben dürfen. Bruchstückhaft fügt sich das Puzzle aus sexueller Unzulänglichkeit der Ehemänner und Liebhaber zur Kugelschreiberdesignerin und psychosen-geplagten Mutter zu dem Bild einer nonchalanten alten Frau, die sich selbst zugehörig fühlt zu einer "geschlossenen demographischen Gruppe von Trotzkis".

"Schauen Sie sich in der Stadt um, und Sie sehen uns [alte Frauen] in unseren Unstützstrümpfen durch die Straßen wanken. Schauen Sie genauer hin, und Sie werden feststellen, daß einige von uns sich zwar noch an den Rand des Lebens klammern, viel mehr aber schon losgelassen haben.". Lily ist nicht verbittert vom Leben, obwohl sie es gut sein könnte...

Ohne anmaßend zu wirken, kann der Leser Self einreihen in die literarische Tradition der englischen Romantik, des französischen Surrealismus und der Beat Generation. Er provoziert mit den skurrilen Entwürfen seiner Phantasie, seinem schwarzen Humor. In seiner Satire auf die moderne Gesellschaft verschwimmen die Grenzen zwischen Absurdem und Banalem, zwischen Normalität und Wahnsinn.

Titelbild

Will Self: Wie Tote leben. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Klaus Berr.
Luchterhand Literaturverlag, München 2002.
448 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3630871143

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