Leidenschaftslose Blutsschwestern

Judith Lennox enttäuscht in ihrem neuen Roman mit Klischees

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Blutsschwestern" nennen sich Liv, Rachel und Katherine, seitdem sie sich als kleine Mädchen in einer Mondnacht am Lagerfeuer ewige Freundschaft schworen - ein Schwur, den sie erneuern, als sich nach dem Ende der gemeinsamen Schulzeit ihre Wege trennen. Und so machen sich die drei sehr unterschiedlichen jungen Frauen ins Leben auf: Die verträumte Liv geht nach Lancaster, um zu studieren, die verwöhnte Rachel wird von ihren reichen Eltern nach Paris geschickt und die lebenshungrige Katherine stürzt sich ins Londoner Partyleben. Trotz der örtlichen Trennung bleiben die Freundinnen einander innerlich verbunden und so wendet sich Rachel ein paar Jahre später in tiefster Verzweiflung an Liv und Katherine, als sie, hochschwanger und allein, eine schreckliche Entdeckung macht. Doch Liv und Katherine erkennen nicht die Dringlichkeit von Rachels Bitte um Beistand. Rachel stirbt nach der Geburt ihres Kindes, ohne die Freundinnen noch einmal gesehen zu haben, und lässt sie mit unbeantworteten Fragen und erdrückenden Schuldgefühlen zurück.

Judith Lennox' Roman "Die Mädchen mit den dunklen Augen" zeichnet die Lebenswege der Freundinnen von 1960 bis in die späten 70er Jahre nach und verliert sich schon früh im Klischee. Den drei ach so verschiedenen Freundinnen werden zwar verschiedene Charakterzüge (verträumt, verwöhnt, lebenshungrig) und stets unterschiedliche Lebenssituationen aufgedrückt, doch ihre Stimmen weisen im Roman einen fast durchgehenden Gleichklang auf. Auch die Umsetzung ihrer Charakterzüge auf die jeweiligen Lebenssituationen ist wenig glaubwürdig: die verträumte Liv heiratet früh ihre große Liebe und bekommt zwei Kinder, bis sie herausfindet, dass ihr Mann ein brutaler Psychopath ist. Sie flieht mit den Kindern bei Nacht und Nebel zu Katherine nach London und beginnt sich mit der Hilfe von Felix, einem guten Freund Katherines, eine eigene Existenz aufzubauen. Natürlich entpuppt sich Felix nach einigen Irrungen und Wirrungen als die Liebe ihres Lebens, mit dem sie sogar ein eigenes Geschäft gründet.

Katherine, lebenshungrig und - Überraschung! - rothaarig, kann es als junges Mädchen kaum erwarten, ihre Unschuld zu verlieren. Als sie es endlich hinter sich hat, betrachtet sie sich im Spiegel und erwartet ein verändertes Spiegelbild: "Sie hatte geglaubt, sie würde anders aussehen hinterher. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie sich im Spiegel. Sie hatte erwartet - ja, was denn? Ein inneres Leuchten ... geheimnisvolle weibliche Ausstrahlung?" Der Provinz nach der Schulzeit endlich entkommen, stürzt sie sich im sündigen London in zahllose Affären, bis sie nach einer Beinah-Vergewaltigung und einem trostlosen Dasein als Dauer-Geliebte ihrem Leben eine Wende gibt.

Dass es Lennox nicht gelingt, sich von uralten Klischees zu entfernen, müsste man ihr nicht unbedingt vorwerfen, auch dafür gibt es mit Sicherheit Leser. Was man ihr jedoch ankreiden muss, ist ihre Unfähigkeit zu erzählen. Über weite Strecken des Romans sieht Lennox sich zu überflüssigen Nacherzählungen genötigt, um die Handlung voranzubringen - was mehr als deutlich macht, dass ihr unglaubwürdiges Konstrukt aus Schicksalsschlägen, Enthüllungen und Zufallsbegegnungen nicht funktioniert, dass kein Rädchen ins andere greift. Dabei schafft es Lennox nicht einmal, das Rätsel um Rachels plötzlichen Tod nach der Geburt ihres Kindes spannend zu gestalten. Der Leser will gar nicht mehr erfahren, welch schreckliches Ereignis die Frühgeburt auslöste. Lennox legt halbherzige Spuren, die sie nicht weiter verfolgt, und auch die beiden übriggebliebenen Freundinnen Liv und Katherine scheint diese Frage nicht wirklich zu quälen, sind sie doch stets viel zu sehr damit beschäftigt, über die Liebe und ihre Tücken zu lamentieren. Ab und an starrt eine der Freundinnen auf das Meer oder in die Dunkelheit und sinniert über Rachels Tod, aber diese Szenen bleiben bloßes Konstrukt. Lennox hat einen seelenlosen Roman geschrieben, der vor kaum einem Klischee halt macht, und ihn in den zeitgeschichtlichen Rahmen des Englands der 60er und 70er Jahren gepresst. Politische und gesellschaftliche Ereignisse wie die Hippie-Zeit, die Frauenbewegung, der Regierungswechsel von den Konservativen zu den Sozialdemokraten, um nur einige zu nennen, werden am Rande pflichtschuldigst abgehakt, ohne jedoch je eine wirkliche Rolle zu spielen. Lennox' Darstellung Englands ist hoffnungslos romantisch - es ist ein England der Herrenhäuser und der weitläufigen Parks, in dem sich fast jedes Problem mit einer guten Tasse Tee lösen lässt. Liv, die mit zwei kleinen Kindern allein dasteht, nachdem sie ihren unberechenbaren Ehemann verlassen hat, gerät zwar in materielle Not, aber Lennox vertut die Chance, dieser Wendung in ihrer Geschichte Tiefe zu geben, in dem sie Livs Not nie wirklich existenzbedrohend werden lässt.

"Die Mädchen mit den dunklen Augen" ist ein durch und durch überflüssiger Roman, der die beiden übriggebliebenen Protagonistinnen Liv und Katherine eine Reihe konstruierter Hindernisse überwinden lässt, bis beide am Ende die große Liebe und ihre Bestimmung im Leben finden. Soviel Offensichtlichkeit wäre vielleicht noch zu verzeihen, wenn der Roman wenigstens gut erzählt wäre, statt zwischen Nacherzählung und eingestreuten Erzählpassagen hin und her zu schwanken.

Titelbild

Judith Lennox: Das Mädchen mit den dunklen Augen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Mechthild Sandberg.
Kabel Verlag, München 2002.
542 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3822505587

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