Genosse Wieslaw Gomolka heult

Marek Lawrynowiczs wundersame Suche nach dem verlorenen Ich

Von Torsten GellnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Gellner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jeder kennt das: Ab einem bestimmten Alter oder Alkoholpegel ist jedes gesellige Zusammensein für eine sentimentale Rückschau auf die eigene Jugendzeit recht und die alten, schon hundert mal gehörten Geschichten werden nochmals erzählt. Das größte Vergnügen ist hierbei fast immer auf Seiten des Erzählenden zu finden, als Zuhörer möchte man lieber selbst an die Reihe kommen, um das eben Gehörte mit dem Kolportieren noch mutigerer Rangeleien, noch schärferer Streiche und noch gröberen Unfugs zu toppen. Es sei denn, der Erzähler besitzt die Gabe, seine Zuhörer wirklich mitzunehmen auf seine ganz persönliche Zeitreise.

Der 1954 geborene polnische Autor Marek Lawrynowicz verfügt zweifellos über diese Fähigkeit. Der Widmung seines Erinnerungsromans "Lehrjahre des Gammelns" kann man entnehmen, dass es sich offenkundig um eine autobiographische Retrospektive handelt. Ob sich dabei alle Ereignisse tatsächlich so abgespielt haben und ob man die Originale der Stadt Falancia, von der er berichtet, dort wirklich einmal angetroffen hat, weiß allein der Autor. Man lässt sich jedoch gerne gefangen nehmen von den Erinnerungen an den alten Borówa, der auf seinem Tonbandgerät tagein, tagaus ausgeleierten orthodoxen Chören lauscht, den blinden Opa, der stets ein paar Bonbons und Geschichten für die Kinder auf Lager hat oder an Wisnia, der mit artistischen Sprüngen von Waggon zu Waggon eine beispiellose Form des Schwarzfahrens beherrscht und eines Tages, nach seinem ersten und einzigen Einsatz als Ersatztorwart des regionalen Fußballclubs, die Heimat verlässt und es mit dem Zug bis nach Paris schafft.

Mit dem Schelmenroman "Der Teufel auf dem Kirchturm" (2000) legte Marek Lawrynowicz ein beachtliches Deutschlanddebüt vor. Diese polnisch-litauische Familiensaga überzeugt durch skurrile Einfälle und einen unbekümmerten Umgang mit der nicht immer rosigen osteuropäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die große und einzige Schwäche des Buchs liegt jedoch in der ausgeprägte Neigung des Autors zur schnellen Pointe und dem damit verbundenem Figurenverschleiß. Denn seine Charaktere, denen oft nur eine kurze Lebensdauer beschieden ist, tauchen meist einzig um der Zote willen auf - und gleich wieder ab. Auch in seinem neuen Buch verlässt sich der Autor auf das humoristische Potential eines besonders schrulligen Personals, jedoch verhilft ihm ein erzählerischer Kniff dazu, das Defizit seines Erstlings zu vermeiden. Ein sich erinnernder Ich-Erzähler widmet sich in vielen kurzen Kapiteln jeweils denkwürdigen Protagonisten seiner Jugend- und Schulzeit. So können die zahlreichen Figuren bequem ein- und ausgeblendet werden, ohne sie umständlich in eine breite Erzählung, in der sie verloren gehen könnten, einbauen zu müssen.

Die Geschichten sind dabei erstaunlich doppeldeutig und ironisieren nicht selten die offizielle sozialistische Ideologie. So schließen sich an das Kapitel über den kurzen Ruhm und die Reiselust des Torhüters Wisnia zwei Episoden an, die die ,zersetzenden' Folgen dieses Trips in das kapitalistische Ausland drastisch vor Augen führen. Nunmehr Exot wird Wisnia nach seiner Rückkehr aus pädagogischen Gründen ins Lyzeum eingeladen, wo er in der Geographiestunde des Lehrers Tiutaj anhand von Photos seine Abenteuer berichten soll. Offensichtlich weckt das wiederum das Fernweh Tiutajs und seines Kollegen Kazio. Beide schließen sich in der Pause im Klassenzimmer ein und betrachten wehmütig Postkarten von Paris. Nur wenige Seiten später wird der Geograph barfüßig, mit der Weltkarte unter dem Arm als verrückter Herumtreiber aufgegriffen und ins Irrenhaus verfrachtet, während sein frankophiler Kollege die Fensterscheiben seiner Wohnung mit Bildern von Loire-Schlössern tapeziert und sich zunehmend in seiner abgedunkelten Märchenwelt verliert. Das kommt also davon, wenn der imperialistische Geist Einzug hält in die friedliche Idylle einer sozialistischen Provinz.

Das Polen der Gomulka-Ära, das Lawrynowicz schildert, wird weniger scharf attackiert als vielmehr leicht melancholisch karikiert. Warum auch eine Ideologie angreifen, an die seinerzeit sowieso keiner ernsthaft geglaubt hat? Die offiziellen Spielregeln hatte man freilich zu beherrschen, um das System mit Schwejkscher Raffinesse unterlaufen zu können. So bedrängt der hünenhafte Schüler Rysiek, der aufgrund eines energischen Auftrittes seiner ebenso gewaltigen Mutter beim untersetzten Direktor Narrenfreiheit genießt, eben jenen Schulleiter bei jeder Gelegenheit mit Vorschlägen zur Verbesserung des Unterrichts: Orangerote Kreide gäbe den besseren Kontrast auf der schwarzen Tafel und überhaupt sollten doch die Mathematikstunden im Hinblick auf die optimale Konzentrationsfähigkeit auf zwanzig Minuten verkürzt werden, so jedenfalls stehe es im "Jungen Techniker", einem staatlichen Jugendmagazin. Auch der schuleigene Köter kann zur Unterminierung instrumentalisiert werden. Ein paar Würstchen genügen, um das Tier auf seinen neuen, parteikonformen Namen Wieslaw abzurichten. Genosse Wieslaw - so wurde Wladyslaw Gomulka im Volksmund genannt. Als alle Schüler den Hund bei seinem neuen Namen rufen, verliert der Direktor völlig den Verstand: "Er griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. 'Der Sicherheitsdienst? Es ist zu einer üblen Provokation gekommen! [...] Wir sind umzingelt! Da! Sie heulen schon wieder! Was? Der Hund heult nicht. Wieslaw heult. Ich sage doch, Wieslaw! Genosse Wieslaw heult! Ja! Das meine ich! Ich bringe ihn um, wenn er nicht aufhört!'" Natürlich wird der Schulleiter nach dieser staatsfeindlichen Drohung prompt verhaftet und darf in Zukunft nur noch einfache Arbeiter in einer Berufsschule unterrichten.

Lawrynowiczs amüsante Zeitreise ist durchaus nostalgisch zu verstehen, sie wird nämlich von einer nicht minder sentimentalen Rahmenhandlung flankiert. Der Ich-Erzähler begibt sich mit seinem Freund Jósef auf Spurensuche. Sie bereisen Jahrzehnte später die Orte der Erinnerung, die ihnen und ganz besonders auch den Lesern ans Herz gewachsen sind. Dort, wo einst das "Star-Kino" stand, der zentrale Treffpunkt der Jugendclique, zeugen nur mehr Trümmer und eine einsame, kulissenartige Wand von den einstigen Anfeuerungsrufen, die den Leinwandhelden galten. Auch das Haus der ersten Liebe ist verlassen und verrottet, es ist ein "totes Paradies, überflüssig". Doch wozu diese Suche nach dem "Schnee von Gestern"? Man hofft, sich selbst zu finden, denn "wir haben uns unterwegs selbst verloren und nicht einmal gemerkt wann. Unser verlorenes Ich, so scheint uns, wohnt in der Vergangenheit, und wir glauben, wenn wir jene Zeit wiederfänden, würden wir auch unser Ich auf wundersame Weise wiederfinden."

Titelbild

Marek Lawrynowicz: Lehrjahre des Gammelns. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Renate Schmidgall.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
154 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-10: 3406489664

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