Keine "Neckermänner" der Antike

Marion Giebels ansprechendes Sachbuch über "Reisen in der Antike"

Von Stefan SchornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schorn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die klassische Philologin Marion Giebel hat sich schon seit längerem als Autorin von Sachbüchern über die Antike und als Übersetzerin lateinischer Autoren einen Namen gemacht. Ihre Bücher zeichnen sich durch eine eingängige Darstellung, verbunden mit Sachkenntnis, aus und heben sich in wohltuender Weise von der Masse mittelmäßiger Sachbücher über die Antike ab. "Reisen in der Antike" bestätigt diese Einschätzung.

Das Buch hat zwei Schwerpunkte: "Reisen in Griechenland und bis an die Grenzen der bewohnten Welt" und "Reisen im Römischen Reich". Im ersten Teil schildert die Autorin zunächst exemplarisch einige bedeutende Reisen aus dem griechischen und phoinikisch-karthagischen Bereich. Sie beginnt - wie nicht anders zu erwarten - mit einer Reise des griechischen Mythos - glücklicherweise jedoch nicht mit der schon zu häufig traktierten Irrfahrt des Odysseus, bei der sich die Gelehrten seit 2500 Jahren bemühen, die in der Odyssee erwähnten Orte zu lokalisieren, sondern mit der Fahrt der Argonauten: Jason und seine Gefährten fahren mit der Argo von Iolkos bis zum östlichen Rand des Schwarzen Meeres nach Kolchis, um dort vom König Aietes das Goldene Vlies zu erhalten. Schon hier stellt Giebel ihre Vertrautheit mit der neueren Forschung unter Beweis, da sie auf einen möglichen historischen Kern des Mythos hinweist: Das Gebiet um Kolchis am Phasis (heute Rioni) war reich an Gold, das auch mit Hilfe von Fellen aus den Flüssen gewaschen wurde (daher der Gedanke eines Goldenen Vlieses). Jasons Heimatstadt war in mykenischer Zeit (bis ca. 1200 v. Chr.) ein bedeutender Handelsplatz, weshalb es denkbar ist, daß der Mythos die Versuche griechischer Händler widerspiegelt, am Schwarzen Meer Fuß zu fassen.

Nach zwei kurzen Abschnitten über Reisen im Rahmen der Großen Griechischen Kolonisation im 7. Jahrhundert v. Chr. und über die Erdkarte des Hekataios von Milet folgt mit der Beschreibung der Reisen Herodots, des "Vaters der Geschichtsschreibung", einer der beeindruckendsten Abschnitte des Buches. Giebel versteht es, die Reisen Herodots ins Zweistromland, ans Schwarze Meer und nach Ägypten mit all ihren Schwierigkeiten und Faszinationen plastisch vor Augen zu führen, sich geradezu in Herodot hineinzuversetzen. Daneben vermittelt sie eine Vorstellung von Plan und Anlage des herodoteischen Geschichtswerkes - auch hier zeigt sie sich mit neuen archäologischen Erkenntnissen vertraut. Einer schönen Geschichte zuliebe vernachlässigt sie nicht die historische Kritik (z. B. die chronologische Unmöglichkeit des Zusammentreffens zwischen Kroisos und Solon). Sie kennt die Auswüchse moderner Hyperkritik, die Herodot als Schreibtischtäter ansieht und seine Reisen leugnet, schließt sich ihr aber nicht an.

Im Anschluß schildert die Autorin verschiedene Versuche der Umschiffung Afrikas und des Segelns mit dem Monsun, um den Leser dann mit einer Form der Reise bekannt zu machen, die dem antiken Menschen vertraut war, heute aber kaum noch als solche bezeichnet werden würde: dem Kriegszug, exemplifiziert am Rückmarsch eines griechischen Söldnerheeres durch Feindesland unter der Führung des Atheners Xenophon nach der Schlacht bei Kunaxa (im Jahr 401 v. Chr.) bis an die Südostküste des Schwarzen Meeres. Hier wäre eine Karte sehr hilfreich gewesen! Es folgen verschiedene Expeditionen aus hellenistischer Zeit und ein zu knapp gehaltenes Kapitel über die Sieben Weltwunder (die leider nicht datiert werden).

Nach all diesen Reisen bedeutender Persönlichkeiten fragt sich der Leser, ob denn auch der Normalbürger reiste, und wenn ja, wie und wohin? Der Grieche reiste etwa zu den panhellenischen Wettkämpfen, zu Orakeln oder zu Tempeln des Heilgottes Asklepios, wobei sich Probleme bei der Anreise (Überfälle), der Unterbringung und Verpflegung der oft zahlreichen Gäste auftaten.

Noch mehr über das Reisen des Normalbürgers findet man zu Beginn des zweiten großen Abschnitts "Reisen im römischen Reich". Für die römische Kaiserzeit, die "Blütezeit des Reisens", in der man auch auf Touristen im heutigen Sinn des Wortes trifft, stehen genügend Quellen zur Verfügung, um auch weniger spektakuläre Reisen zu rekonstruieren. Giebel gibt zunächst einen Abriß der Geschichte des römischen Straßennetzes (auch hier wäre eine Karte dringend erwünscht), wobei sie aber die militärischen Ziele der Straßenanlagen unterschätzt, und beschreibt Reisewege, Rasthäuser und Reisemöglichkeiten zur See. Auch in diesem Teil des Buches stellt sie dem Leser berühmte Reisende exemplarisch vor Augen, etwa Cicero, Horaz und die römischen Kaiser des ersten und zweiten Jahrhunderts. In besonders gelungener Weise zeigt sie, wie der Kaiser Hadrian die Eindrücke seiner vielen Reisen in die Architektur seiner berühmten Villa in Tivoli einfließen ließ. Erst die Kenntnis des historischen (Reise-)Hintergrunds ermöglicht es dem heutigen Besucher, die Architektur zu verstehen und zu würdigen. Es folgen Abschnitte über antike "Baedekers", phantastische Reiseromane und antike Tourismuskritik, etwa durch Seneca.

Die "Pilgerfahrten ins Heilige Land" stellt die Autorin dem Leser anhand zweier gut gewählter Reiseberichte vor Augen (des anonymen "Pilgers von Bordeaux" und der Egeria), wobei sie auch die Kehrseite des Wallfahrtstourismus (Souvenirhändler, Luxus) kurz anspricht. Sie hätte die oft nicht geraden frommen Auswüchse des Pilgerwesens noch etwas deutlicher ausmalen sollen - man denke nur an die (erst später heilige) Maria Aegyptiaca, die als Prostituierte nach Jerusalem reisen wollte, in der Erwartung, unter den Pilgern möglichst viele Kunden zu finden.

In einigen Befunden aber irrt die Autorin. Die Ziele Alexanders des Großen beschreibt sie z. B. zu idealistisch: "Ost und West sollten zuerst durch Eroberung, dann aber durch eine Völkerverbindung, langfristig eine Verschmelzung, zu einer Einheit werden." Giebel wiederholt hier eine These W. W. Tarns, die neuere Forschungen längst als haltlos erwiesen haben (vgl. etwa Hans-Joachim Gehrke, Geschichte des Hellenismus von 1990). Auch beruht die wissenschaftliche Leistung des Eratosthenes nicht auf der exakten Berechnung des Erdumfangs. Da wir nicht wissen, welches Stadionmaß er dabei verwendet hat, können wir überhaupt nicht sagen, ob seine Berechnung korrekt war. Seine Leistung liegt darin, als erster in rein wissenschaftlicher Weise eine Berechnung des Erdumfangs versucht zu haben. Das weist zuletzt Klaus Geus in dem Sammelband "Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in der Antike", der von Wolfgang Hübner herausgegeben wird, nach.

Stellenweise entsteht der falsche Eindruck, ein Interesse an Geographie sei erst in der römischen Kaiserzeit entstanden. Geographische Werke gab es jedoch ab Hekataios (6. Jahrhundert v. Chr.) zu jeder Zeit, nur sind sie heute zum Großteil verloren. Bei der Datierung der phantastischen Reiseerzählung irrt Giebel ebenfalls: Das Genre gab es schon in hellenistischer Zeit: z. B. Theopomp (FgrHist 115 F 75), Hekataios von Abdera (FgrHist 264 F 7-12), Euhemeros (FgrHist 63).

Doch diese Einzelkritiken schmälern den Wert des Buches in keiner Weise. Die Auswahlbibliographie ist mustergültig und bedarf kaum der Ergänzung. So ist es Marion Giebel gelungen, ein kurzweiliges, verständliches und daneben fachlich fundiertes Sachbuch über das Reisen in der Antike zu schreiben, das eine gelungene Kombination aus allgemeinen Informationen über das Reisen und illustrierenden Reiseberichten darstellt.

Titelbild

Marion Giebel: Reisen in der Antike.
Patmos Verlag, Düsseldorf 1999.
250 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 376084085X

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